„Die Politik beförderte die traditionale Kleinfamilie“

Die Art des Wohnraums begünstigt oder hemmt Emanzipation. Annette Harth erzählt, wie sich die Wohnweise ostdeutscher Frauen durch den Mauerfall verändert hat

Wohnen in der DDR in den 1980er Jahren: Junge Einwohner im Neubaugebiet Leipzig-Grünau © picture alliance. Fotograf: Wilfried Glienke

In der DDR wohnten sehr viele Menschen in standardisiertem Wohnraum, und den meisten gehörten ihre vier Wände auch gar nicht, es war kein „Eigenheim“: Welchen Stellenwert hatte vor diesem Hintergrund das Wohnen in der DDR verglichen mit der BRD?

Tatsächlich wohnten am Ende der DDR nur circa ein Viertel der Haushalte im selbstgenutzten Wohneigentum, in den alten Bundesländer zu dieser Zeit 41 Prozent. Aber man kann bei den DDR-Mietwohnungen von einem eigentumsähnlichen Verhältnis sprechen. Hatte man endlich – oft nach Jahren des Wartens – eine Wohnung zugeteilt bekommen, dann war die Wohnsicherheit sehr hoch. Kündigungen gab es so gut wie nie, selbst wenn Mietzahlungsprobleme oder Beschwerden aus der Nachbarschaft vorlagen. Auch wurden die Wohnungen weitgehend nach eigenem Ermessen gestaltet, umgebaut und mit einem hohen Maß an Eigenleistungen grundlegend saniert. Die Standardisierung eines großen Teils der Wohnungen – ein knappes Viertel lebte in Großwohnsiedlungen – setzte dem natürlich enge Grenzen, aber – wo vorhanden – wurden Individualisierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten genutzt. Dazu kam die hohe Bedeutung des Kleingartens – in der geliebten „Datsche“ wurde viel gemeinsame Zeit verbracht.

In beiden deutschen Staaten dominierte der Idealtypus des bürgerlichen Wohnens: Die Wohnung als exklusiver Ort der kleinfamilialen Privatheit und Gegenpol zum Erwerbsbereich. Die Bedeutung der Wohnung war in der DDR – genau wie in der BRD – sehr hoch. Sie war der Ort der Kleinfamilie und des Rückzugs. Obgleich die gesellschaftlichen und staatlichen Zwänge tief in den familiären Alltag eindrangen, so war doch die Familie nahezu der einzige Bereich, in dem man glaubte, vertraute Offenheit genießen zu können. Es gab ein ausgesprochen familienzentriertes Verhalten großer Teile der Bevölkerung, ein Rückzug ins Private, eine auffällige Tendenz familialer Abkapselung und Verhäuslichung der Freizeit. Defizite der öffentlichen Räume und des Angebots an außerhäuslichen Freizeiteinrichtungen begünstigten diese Entwicklung.

Welche emotionalen Funktionen hatte der Wohnraum in der DDR aus Ihrer Sicht für Frauen?

Die Wohnbedingungen – in Plattenbauwohnungen häufig beengt oder im Altbau mit gravierenden Ausstattungsmängeln – boten nur eingeschränkten Raum für die Kultivierung von Individualität und familialer Intimität. Die Hellhörigkeit vieler Wohnungen in den Großsiedlungen, der Wohnungsmangel und die Beengtheit behinderten die Emotionalisierung und Intimisierung der Beziehungen. Dagegen wurden die gegenseitige Rücksichtnahme und das Zurückstellen der eigenen Gefühle und Ansprüche begünstigt.

Die gesamte Wohnungsbaupolitik und Wohnungsverteilung beförderte die traditionale Kleinfamilie mit doppelbelasteter Frau. Haus- und Familienarbeit war auch in der DDR vermehrt Sache der Frauen, wurden aber durch die Wohnungsbedingungen sehr erschwert. Zum Beispiel durch die Art der Grundrisse mit Miniküchen, in denen nur eine Person – in der Regel die Frau – arbeiten konnte. Oder durch Ausstattungsmängel wie Kohleöfen, die viel Alltagsarbeit verursachten. Eine wichtige Ausnahme war die institutionellen Kinderbetreuung, die im Allgemeinen sehr nah an der Wohnung lag und problemlos verfügbar war.

Die Repräsentationsfunktion der Wohnung war in der DDR längst nicht so verbreitet wie in der BRD – zumal man ja nicht umfänglich darauf Einfluss nehmen konnte. Dagegen waren auch unter den beschränkenden Bedingungen die Kreativität und vor allem das Improvisationstalent in hohem Maße gefragt und auch vorhanden.

Wie wurde die eigene Persönlichkeit in standardisierten Wohnungen ausgedrückt? Gab es hier – mangels Angebot – auch viel Kreativität?

Ja, die gab es – man schaue sich nur einmal die unterschiedlichen Gestaltungen der Balkone oder der Hausflure an. Auch die Gestaltung der Arbeitsplätze war oft sehr persönlich. Allerdings waren auch die verfügbaren Möbel und Ausstattungselemente standardisiert und an die Wohnungen angepasst, die Schrankwand ist wohl der Klassiker. Individualität und Kreativität konnte man im eingeschränkten Rahmen durch Handarbeiten, Zimmerpflanzen und handwerkliches Geschick ausleben. Kreativ sein musste man auch bei der Schaffung von Stauraum, der Unterbringung von Dingen, der multifunktionalen Nutzung beengter Wohnverhältnisse in der Plattenbauwohnung oder bei der Beschaffung von Baumaterialien zur Renovierung und Sanierung der Altbauwohnungen. Gegenseitige Unterstützung war dabei an der Tagesordnung.

Was wurde in der Wohnsituation für Frauen nach der Wende besser, was schlechter?

Insgesamt haben sich für Frauen (wie Männer) nach der Wende erheblich mehr Möglichkeiten ergeben, die eigenen Wohnansprüche umzusetzen: Die vormalige Standardisierung und staatliche Versorgung mit Wohnraum und Infrastruktur wich sukzessive einer marktförmigen Gestaltung. Damit einher gingen Angebotsausweitungen, umfassende Qualitätssteigerungen und vor allem deutliche Differenzierungen der Wohnbedingungen. Die Möglichkeiten zur Selbstentfaltung im Wohnbereich sind prinzipiell gestiegen: Man kann Wohneigentum erwerben, die Freuden eines angenehmen Wohnstandards erleben, Einrichtungsgegenstände jeglicher Art kaufen, man kann umziehen und in einer Haushaltsform zusammenleben, die man möchte, etwa als Single, als kinderloses junges Paar oder in einer WG. Diese Möglichkeiten hängen in hohem Maße von der Einkommenssituation ab, was in der DDR nicht der Fall war. Insofern ist in Abhängigkeit von der sozioökonomischen Lage eine deutliche Spreizung der Wohnbedingungen festzustellen.

Dies betrifft auch die Ausstattung mit wohnungsbezogener Infrastruktur. Von der selbstverständlich um die Ecke verfügbaren Kinderbetreuung und Jugendeinrichtung über die Einkaufsmöglichkeiten und wohnungsnahen Dienstleistungen bis hin zur Haltestelle der Öffentlichen Verkehrsmittel haben sich sehr viele Differenzierungen zwischen den städtischen Quartieren und vor allem zwischen Stadt und Land ergeben. Manche Frauen haben sicherlich auch Verschlechterung erlebt, die ihren Alltag zwischen Familien- und Erwerbsaufgaben erschweren.

Wie hat sich die Bedeutung von drinnen und draußen in Ostdeutschland aus Ihrer Sicht verändert? Könnte man sagen: Wenn heute in leeren Gebieten draußen niemand mehr ist, ist das Drinnen für die Menschen viel bedeutender geworden?

Das Drinnen ist sicher für die Menschen sehr viel wichtiger geworden – wobei ich das nicht auf die Leere im öffentlichen Raum zurückführen würde. Zu DDR-Zeiten wurden die öffentlichen Räume in den Wohngebieten durch die Stadtplanung vernachlässigt und waren entsprechend besonders in den Großwohnsiedlungen keine Aufenthaltsorte. Das ist heute an vielen Stellen sehr viel besser geworden.

Den Bedeutungsgewinn der Wohnung würde ich dagegen an folgenden Aspekten festmachen: Die Wohnungen werden in viel höherem Maße stilvoll, individuell und ästhetisch gestaltet. Das gilt besonders für die Wohnzimmer beziehungsweise Wohn-Esszimmer. Mussten diese zu DDR-Zeiten multifunktional genutzt werden – zum Arbeiten, zum Basteln, Kinderspiel, Besuchsempfang, Hausarbeiten wie Bügeln, bisweilen auch zum Schlafen – wurden diese Tätigkeiten vermehrt in andere Räume ausgelagert: Kinderspiel ins Kinderzimmer, Bügeln in die Küche, Heimwerken in den Hobbyraum etc. Durch die zunehmende Auslagerung dieser Tätigkeiten gelingt es, das Wohnzimmer vermehrt als Wohlfühlraum, als Ort der Regeneration, des Rückzugs, gegebenenfalls der Gemeinschaftlichkeit des Haushalts und der Selbstverwirklichung zu kultivieren.

Die Möglichkeiten der Intimisierung der Haushaltsmitglieder sind erheblich gewachsen: Man kann sich aufgrund der im Durchschnitt gewachsenen Raumzahl besser aus dem Wege gehen, kann seine Intimfunktionen ungestörter ausleben, kann seinen Bereich individueller gestalten.

Andererseits werden die Wohnungen im Durchschnitt deutlich häufiger für Treffen mit dem Freundeskreis und für Feiern und Partys genutzt – auch das ein Zeichen für den Bedeutungsgewinn der Wohnung. Das hängt sicherlich mit den im Durchschnitt größeren Wohnungen zusammen, ist aber auch ein Zeichen für eine Öffnung der Wohnung, ein Trend, der auch im Westen feststellbar ist. Das bedeutet, dass man hier gewisse Repräsentationsaufgaben beziehungsweise -anliegen hat. Man will mit seiner Wohnung und ihrer Einrichtung im rechten Licht erscheinen. Außerdem muss man auch die Möglichkeiten im Hinblick auf Größe, Möbel oder auch Beköstigung der Gäste haben.

Genau wie im Westen zeigen sich also Öffnungstendenzen der Wohnung. Um aber nun die als sehr wichtig empfundene Privatheit des Haushalts aufrechtzuerhalten, werden vermehrt Schwellen zwischen privat und öffentlich innerhalb der Wohnung errichtet, wie zum Beispiel Gäste-Zimmer und Gäste-WCs.

Stimmt die Annahme: Je belastender der Alltag mit Beruf, Pendeln, Zeitdruck etc. empfunden wird, desto größer wird die Bedeutung der eigenen Wohnung?

Ja, ganz sicher. Die Wohnung wird im Allgemeinen als Refugium und Gegenwelt zur Arbeitsbelastung und der Fremdbestimmung durch Außenansprüche empfunden. Hier muss man sich nicht kontrollieren, sondern kann sich so verhalten, wie es einem beliebt. Die Wohnung wird als Privatbereich, als Raum der Geborgenheit und Ruhe deklariert. Sie hat eine Abschirmfunktion. Sie wird als Ort größtmöglicher Freiheit und Emanzipation von Zwängen empfunden und als Gegenpol zu Arbeit. Menschen nehmen ihre Wohnung zu sehr hohen Anteilen als den Ort der Selbstentfaltung wahr.

Ein nicht ganz unbedeutender Aspekt im Zusammenhang mit gestiegener Arbeitsbelastung und höherem Zeitdruck ist auch die Bedeutung von Funktionalität im Wohnbereich, die ebenfalls hoch ist. Die Wohnung soll pflegeleicht und alltagstauglich sein; sie soll eine Entlastungsfunktion im anstrengenden Alltag übernehmen und nicht durch ihre Gestaltung und Einrichtung zu weiteren Belastungen führen.

Selbstverwirklichung im Wohnbereich und bewusste Kultivierung des Innenraums: Hat das aus Ihrer Sicht positive und negative Effekte für die Emanzipation von Frauen?

Das ist angesichts des Wandels der Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnisse schwer in dieser Eindeutigkeit zu sagen. Es geht dabei eher um Fragen der Aufgabenteilung im Privatbereich und um die Gestaltung der räumlichen Bedingungen dafür. Die Wohnung als Ort der Selbstverwirklichung zu kultivieren, ist ja historisch betrachtet ein eher junges Anliegen, besonders für Frauen. Ihre Versorgungsarbeit wurde unsichtbar gemacht, aus dem zentralen Wohnbereich in Nebenräume verdrängt und durch die Grundrisse erschwert. Die vielen Wohnungen, die immer noch auf traditionale Familienhaushalte zugeschnitten sind, wirken heute dagegen angesichts der Vielfältigkeit der Haushaltsformen und der Veränderungen der geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung nicht selten als Korsett. Überkommene Lebensweisen und Arbeitsteilungsmuster werden konserviert, wenn die Wohnungsschnitte nur wenig Flexibilität der Nutzung erlauben, wenn Versorgungsaufgaben erschwert werden und auch durch eine übermäßige Stilisierung der Wohnung als Ort von Nichtarbeit. Wohnungen sind – für Frauen wie für Männer – heute mit größerer Selbstverständlichkeit Orte der Verrichtung von Haus- und vermehrt auch von Berufsarbeit. Und sie sind gleichzeitig Räume der Selbstverwirklichung und Privatheit. Das zeigt sich besonders für die wachsende Zahl von Einpersonenhaushalten.

Wie können Wohnbedingungen zum Emanzipationshindernis werden?

Das Verständnis der Wohnbedingungen als Emanzipationshindernis für Frauen stammt aus der feministischen Stadtforschung und weist darauf hin, dass die Gestaltung und Beschaffenheit von Wohnungen, Wohngebäuden, Wohngebieten und Stadtstrukturen die Erledigung von Hausarbeit und Care-Aufgaben, die Erwerbstätigkeit von Frauen und ihre Selbstentfaltung behindern können. Die räumlichen Bedingungen können traditionalisierend auf das Geschlechterverhältnis wirken, etwa wenn die Küchen so klein sind, dass man dort kaum zu zweit arbeiten kann, wenn die Kinderzimmer in Randlagen der Wohnung liegen, sodass eine beiläufige Beaufsichtigung der Kinder nicht möglich ist, oder wenn die Straße so befahren ist, dass Kinder nicht unbeaufsichtigt nach draußen gelassen werden können, wenn kein Kita-Platz zu bekommen ist oder keine Erwerbstätigkeit, die eine Vereinbarung mit Care-Aufgaben erlaubt. Diese Bedingungen sind längst nicht überwunden, sondern bestehen fort, was dazu führt, dass Geschlechtsrollenunterschiede befördert und aktiviert werden und in alltäglichen Konflikten in Familien und Partnerschaften zum Ausdruck kommen. Dazu kommt in vielen Großstädten ein sehr angespannter Wohnungsmarkt und ein Wohnungsmangel, was dazu führt, dass Menschen mit niedrigen und sogar mittleren Einkommen Wohnbedingungen akzeptieren müssen, die gar nicht (mehr) zu ihrer gewünschten Lebensform passen.

Wie könnte aus Ihrer Sicht heute Emanzipation durch Wohnungsbau gefördert werden?

Die Wohnbedingungen sollten Raum schaffen für unterschiedlichste Lebensformen und Alltagsgestaltungen. Zunächst einmal geht es darum, dass Menschen überhaupt einen leistbaren und allgemeinen Standards entsprechenden Wohnraum finden bzw. behalten können. Heute geht es vermehrt um das Thema Sicherheit der Wohnung: Wie können Miethaushalte vor Verdrängungen durch exorbitante Wohnkostensteigerungen geschützt werden? Wie können unterschiedliche Lebensformen Wohnraum auch in der inneren Stadt finden? Und wie können Menschen, die außerhalb der Metropolregionen leben, Lebensverhältnisse vorfinden, die ihren Alltag unterstützen, wie öffentliche Verkehrsmittel, Einkaufsmöglichkeiten und soziale Infrastrukturangebote? Die soziale Ungleichheit schlägt sich in einer wachsenden Spreizung der Wohnbedingungen nieder, die dazu führt, dass die Voraussetzungen für die Vereinbarung von Familie und Beruf und für die eigene Selbstentfaltung höchst unterschiedlich ausfallen.

Die Stadt der kurzen Wege, wo in nahräumlicher Entfernung alles erreichbar ist, was der Einzelhaushalt an unterstützenden Bedingungen zur Alltagsbewältigung benötigt, ist ein städtebauliches Leitbild, das – wenn es tatsächlich auch umgesetzt wird – viel Raum für unterschiedliche selbstbestimmte Möglichkeiten der Vereinbarung von care- und berufsbezogenen Anforderungen schafft. Nicht umsonst werden diese Bedingungen von den qualifizierten Mittelschichtsfamilien gesucht. Was den Wohnungsbau angeht, so sind Konzepte wie Diversifikation von Bauformen, Anpassungsfähigkeit von Grundrissen und funktionale Flexibilität der Räume gefragt. Besonders spannend sind auch Wohnprojekte, die – wie schon frühe wohnreformerische Ideen – eine Vergemeinschaftung von Hausarbeit und Care-Aufgaben, eine Vermischung von Wohnen und Arbeiten und auch Unterstützungsmodelle jenseits der Kleinfamilie leben und dabei auch die Geschlechterverhältnisse zum Tanzen bringen.

Prof. Dr. Annette Harth ist Professorin für das Lehrgebiet Soziale Arbeit im Sozialen Raum an der Hochschule Bremen. In ihrer Dissertation hat sie untersucht, wie sich die Wohnweise ostdeutscher Frauen durch den Fall der Mauer verändert hat.

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