Das Nanny-Syndrom

In reichen arabischen Familien werden viele Kinder von Personal erzogen. Welchen Schaden die Seele daran nimmt, beschreibt das Buch „Und Gott schuf die Angst“.

Ameera ist etwa 50 Jahre alt und entstammt der wohlhabenden arabischen Mittelschicht. Seit langen Jahren ist sie erfolgreiche Geschäftsfrau, die jedoch regelmäßig Psychopharmaka nimmt, um den Berufsstress durchzustehen. Als sie ihr Geschäft aufgibt, fällt sie in ein Loch, entwickelt starke Ängste und nimmt noch mehr Beruhigungsmittel. Dann entschließt sie sich zu einer Therapie, bei der herauskommt, dass sie mit acht Jahren von den Söhnen des Personals missbraucht wurde. Die eigene Mutter, zu der sie keinerlei emotionale Bindung hatte, schaute dabei gezielt weg. Der Vater hatte ständig Affären, auch mit Ameeras Nanny. Geborgenheit war für das Mädchen ein Fremdwort.

Die Geschichte dieser unglücklichen Geschäftsfrau ist eine von vielen, die der Hamburger Psychotherapeut Burkhard Hofmann in seinem Buch Und Gott schuf die Angst schildert. Für Ameera trifft zu, was viele von Hofmanns arabischen Patienten als Bürde mit sich schleppen: das „Nanny-Syndrom“, die Erziehung durch Personal, was oft dazu führt, dass Kinder von ihren Eltern emotional unterversorgt werden.

Hofmann hat viele Patienten aus den Ländern der Golfregion behandelt, die er zunächst durch private Beziehungen und dann durch Weiterempfehlung kennenlernte. Regelmäßig fährt er in die Golfregion, um dort Therapien durchzuführen, mitunter arbeitet er auch via Skype. Allerdings therapiert er unter erschwerten Bedingungen: Bei vielen Strenggläubigen werden psychische Abweichungen unter den „Verdacht der Sünde“ gestellt, die Frage nach den Ursachen erübrigt sich folglich. Daher die Scheu vieler seiner Patienten, sich überhaupt in Therapie zu begeben – und die Neigung, den Thera­peuten bisweilen als Verkörperung des „Satans“ zu sehen.

Der Autor zeigt anhand vieler Fallbeispiele, wie bestimmte Leitsätze der arabischen Kultur zu psychischen Verheerungen führen können. Das betrifft insbesondere die Übermacht des Glaubens, der keinen Zweifel duldet, was bei Gläubigen zu massiven Zwängen und Ängsten in der Befolgung der Regeln führen kann. Aber auch die Verpflichtung zu ewiger Treue gegenüber der Familie, die jede Abgrenzung und Loslösung erschwert, kann Menschen in erhebliche Loyalitätskonflikte stürzen. Und schließlich die Polygamie, die Vielehe: Gerade die Erstfrauen leiden erheblich unter dieser Situation, die sie als permanente Kränkung empfinden, und auch die Kinder nehmen häufig Schaden an diesem „Patchwork auf Arabisch“, wie Hofmann es nennt.

Als Leser hätte man sich gewünscht, dass Hofmann sein Thema etwas mehr gestrafft, auf einige Details verzichtet hätte, etwa wenn er die Medikation einzelner Patienten genau darlegt. Insgesamt liest man das Buch, das letztlich auch als Beitrag zur Völkerverständigung verstanden werden kann, aber mit großem Gewinn, da es differenzierte Einblicke in die arabische Seele gibt.

Burkhard Hofmann: Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele. ­Droemer, München 2018, 288 S., € 19,99

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2019: Vom Glück, Verantwortung zu teilen
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