„Ihm das Rückenmark am Hals durchtrennen, so dass er gelähmt, aber empfindungsfähig ist. Ihm die Augen mit einem stumpfen Instrument aus dem Kopf schälen. Ihm das Trommelfell durchstechen, die Zunge herausreißen ...“ Bevor Sie nun aufhören zu lesen, weil Horror nicht Ihr Genre ist, höre ich auf, diese Gewaltfantasien zu zitieren. Denn dies soll eine Leseempfehlung werden für ein überwältigendes Buch. Robert Sapolsky, Stanford-Professor, Neurowissenschaftler und Affenforscher, beginnt sein Grundlagenwerk Gewalt und Mitgefühl mit diesen Sätzen. Offenbar verfolgt ihn seit seiner Kindheit die Vorstellung, wie er Adolf Hitler, diese „verruchteste Seele“, foltern würde. Schlagartig ist der Leser mitten im Thema, denn, so Sapolsky lakonisch: „Unsere Spezies hat Probleme mit der Gewalt.“
Wenn jemand den Finger am Abzug hat oder aber den Arm ausstreckt, um einen anderen zu streicheln, was ist in den Sekunden davor passiert? Was in den Stunden davor? Oder gar vor Jahren, etwa in dessen Kindheit? Das sind die Fragen, anhand derer Sapolsky versucht, den Ursachen des menschlichen Verhaltens auf die Schliche zu kommen.
Wir teilen die Welt unentwegt in zwei Gruppen
Besonders einen Vorgang rückt Sapolsky ins Zentrum seiner Ausführungen, was das Buch, jenseits aller Wissensvermittlung, politisch brisant macht. Es handelt sich um unsere Neigung, die Welt unentwegt in zwei Gruppen aufzuteilen: ich Löwe, du Gnu. Ich weiß, du schwarz. Ich Weibchen, du Männchen. Ich arm, du reich. Binnen 100 Millisekunden reagiert unser Gehirn auf ein Gesicht, je nachdem ob es lächelt oder böse schaut, ob es zur selben Ethnie gehört oder fremd ist und welchen sozialen Status der andere hat. Wir sind also rasch und automatisch voreingenommen. Sogar wenn wir Zeuge davon werden, wie jemand eine Nadel in die Hand eines anderen sticht. Hat diese Hand unsere eigene Hautfarbe, reagieren wir empathischer. Hat im Fußballstadion ein Verletzter „unser“ Teamtrikot an, helfen wir ihm eher als dem „anderen“. Schuld daran ist das Hormon Oxytocin, das Vertrauen, Großzügigkeit und Kooperation gegenüber „uns“ fördert, jedoch ein gemeines, ja oft niederträchtiges Verhalten gegenüber „ihnen“. Unter Einfluss von viel Oxytocin sind wir sogar bereit, im Notfall Personen mit fremd klingenden Namen wie Ahmed eher über die Klinge springen zu lassen als Walter oder Josef.
Auch wenn Sapolsky die biologischen Ursachen für unser Verhalten sucht und findet, stellt er keinen Freibrief für Rassismus aus, noch befürwortet er eine mildernde Rechtsprechung aufgrund von Genvarianten, etwa des berühmt gewordenen „Mördergens“. Er wird nicht müde zu verdeutlichen, dass Gene und Hormone nicht in der Lage sind, Verhaltensweisen zu erzeugen. Sie machen uns lediglich empfänglicher für bestimmte Auslöser.
Empathie kann kontraproduktiv sein
Nicht nur für Psychologen und Ärzte sind die Kapitel zur Empathie von Bedeutung. Schnell wird deutlich, dass den Schmerz des anderen zu fühlen, ihn zu verstehen und ihn zu lindern drei unterschiedliche Vorgänge sind. Es ist nämlich keineswegs so, dass Empathie immer zu helfenden Handlungen führt. Sapolsky schildert, warum es ein vernünftiges Maß an Distanz braucht, um agieren zu können; wie kontraproduktiv es für einen Kranken ist, wenn ein Freund oder Chirurg, emotional angesteckt, einen entsetzten Gesichtsausdruck und vor Erregung einen erhöhten Puls hat.
Das Auffälligste an der Haltung Robert Sapolskys ist, dass er jede Kategorisierung verweigert, jede Denkschule von sich weist. Das bedeutet, dass er nie bereit ist zu vereinfachen. Dieses Buch zu lesen ist daher Arbeit. Wer sich darauf einlässt, ihm in die fachlichen Verästelungen der Themen zu folgen, dem öffnen sich Horizonte. Auch weil er unentwegt in die Geschichte der Psychologie einordnet, mit allen ihren Irrungen und Wirrungen, mit Theorien und Experimenten, die, wie er schreibt, längst auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet sind. Sapolsky schreibt, als hielte er eine Vorlesung, er spricht die Leser immer wieder direkt an: „bitte für später merken“, „Himmel, ist das kompliziert“, „zugegeben, das war ein billiger Kalauer“ – aber da hat man schon gelacht.
Selten hat ein Forscher von Weltrang mit so viel Demut den Stand der Forschung referiert, hat ein Neurowissenschaftler zur Skepsis gegenüber seinem Fach aufgerufen und seine Vorsicht zum Ausdruck gebracht gegenüber all dem, was wir noch nicht wissen. Er hält es für möglich, dass die Menschen der Zukunft auf uns zurückblicken wie wir auf Aderlass und Hexenverfolgung.
Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Aus dem Englischen von Hainer Kober und Antoinette Gittinger. Hanser, München 2017, 1022 S., € 38,–