Was sehen Sie hier, Louise Brown?

Ein Bild, zwei Fragen: Eine liebevolle Umarmung – oder ist es eine verzweifelte? Trauerrednerin Louise Brown deutet die Szene.

Die Illustration zeigt eine Frau, die einen Mann an sich heranzieht
Ein langersehntes Wiedersehen zweier Geschwistern. Im Tod der Mutter vereint. © Andrea Ventura für Psychologie Heute

„Sie hatte ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Er sah immer noch gleich aus, obwohl die Haare kurz waren und sein Körper schwerer geworden war. Die Augen schauten neugierig durch die Brille; es waren die Augen ihrer Mutter, die im Schlafzimmer am Ende des Flures in ihrem Ehebett lag. Die Dämmerung hatte eingesetzt, aber Aileen konnte das Licht nicht einschalten, aus Angst davor, ihre Mutter zu wecken, obwohl sie nie aufwachen würde. Nun aber war Damian da. Wie eine Erscheinung hatte er unter dem schwachen Licht an der Eingangstür gestanden: zwei Geschwister, durch den Tod geeint, was das Leben bis dahin nicht geschafft hatte.

Aileen begann gerade, den Tee zu kochen, als Damian sie unerwartet an sich zog und sein Gesicht auf ihres legte. Wie lange sie dort standen, wusste sie nicht. Die Zeit spielte keine Rolle. Nur die Verbindung: zwischen ihrem und seinem Körper, dem dämmernden Himmel und einem entfernten Lichtschein, der Einsamkeit und der Hoffnung.

Damian fühlte, wie Aileen zunächst in seinen Armen zu erstarren schien. Sie zu halten war, wie ein vertrautes Haus zu betreten. Gleichzeitig spürte er die Dunkelheit im Flur neben ihnen und die Kälte, die dahinter lag. Er dachte an das Taxi, das am Ende der Einfahrt auf ihn wartete.“

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

„Als ich das Bild sah, war ich direkt berührt. Das Bild einer Umarmung, die mehr sagen kann als Worte. Den abgebildeten Personen scheint diese Haltung nicht selbstverständlich zu sein. Ich musste dann an all die erwachsenen Kinder denken, die ich als Trauerrednerin kennengelernt habe, die einander über die Jahre fremd geworden sind und aufgrund eines Todesfalls zusammenkommen. Das erinnerte mich an Risse in meiner eigenen Familie, die sich über die Generationen hindurchziehen. Die ich, wenn ich das könnte, gerne kitten würde.“

Louise Brown, geboren 1975 in London, ist Journalistin und als Trauerrednerin in Hamburg tätig. Im Diogenes-Verlag erschien nach ihrem Longseller Was bleibt, wenn wir sterben im vergangenen Herbst Was bleibt, wenn wir ­schreiben, ein begleitetes ­Trauerjournal.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2024: Ich bin mehr als die Krisen, die hinter mir liegen
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