Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Aber sie wissen nicht immer, was das Beste ist. Früher war es noch klar: Kinder müssen erzogen werden. Mittlerweile ist die Gesellschaft offener und vielfältiger geworden, Entwicklungsziele und -wege sind weniger festgelegt. Heute wird infrage gestellt, ob Erziehung überhaupt noch notwendig ist.
Kinder sollen sich möglichst frei entfalten, ihren Interessen folgen, Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren – vor allem aber vor Kränkungen und Enttäuschungen beschützt werden. Das Begleiten ist zu einem hohen Wert geworden, wohlwollend und unterstützend soll es sein. Anforderungen und Einschränkungen gelten demgegenüber fast schon als anstößig. Niemand soll sich gegängelt fühlen, Verbote sind verpönt. Eine weitverbreitete Sorge besteht darin, Kinder durch ein Nein gegen sich aufzubringen, das könnte eine gute Beziehung gefährden.
In vielen Lebensbereichen wird den Kindern inzwischen zugetraut, dass sie ihren Entwicklungsweg eigenständig bahnen, wichtige Entscheidungen sollen sie aus sich selbst heraus treffen. Das „selbständige Kind“ wurde bereits vor einem Vierteljahrhundert im Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung beschworen. Ihm wird ein hohes Maß an Autonomie zugeschrieben. Mit vielfältigen Kompetenzen und inneren Kräften ausgestattet, soll es auf äußere Strukturierung und Erziehung kaum noch angewiesen sein. Andere braucht es nur noch bei Bedarf.
Unmögliche Konfliktvermeidung
Kinder sind heute tatsächlich in vielen Bereichen selbständiger als früher, und die Abkehr von einer autoritären Erziehung ist ein großer Gewinn. Ein Rückzug aus dem Erziehungsgeschehen hat jedoch fatale Folgen. Erziehung ermöglicht, dass Kinder von dem Reichtum profitieren, den die Erwachsenen angesammelt haben – ihrem Wissen, ihren Erfahrungen, den kulturellen Errungenschaften. Deshalb sind Kinder auf eine Erwachsenengeneration angewiesen, die sie anregt, lenkt und steuert. Die bereit ist, sie auf Wege zu schicken, die zunächst unbekannt sind oder zu mühsam erscheinen.
Woher soll ein kleines Kind wissen, dass das Lesenlernen einen riesigen Gewinn erbringt, wenn ein flüchtiger Medienkonsum lustbringender ist? Wie soll ein Kind eine Vorstellung davon haben, was es in seinem späteren Leben, das es noch gar nicht kennt, benötigt? All das ist weder beliebig, noch fällt es den Kindern von allein zu. Konflikte lassen sich im Erziehungsgeschehen nicht vermeiden, Grenzsetzungen ebenso wenig. Jeder ängstliche Rückzug schadet den Nachwachsenden.
Erziehung ist für die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit und eine erfolgreiche Lebensbewältigung unerlässlich. Die ältere Generation gibt der jüngeren dadurch etwas Wertvolles weiter. Ansonsten verkümmern die kindlichen Entwicklungspotenziale und die Kinder bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Bernd Ahrbeck ist Erziehungswissenschaftler, Psychologe und Psychoanalytiker und lehrt an der International Psychoanalytic University Berlin. Er forscht zu Entwicklungsproblemen bei Kindern und über den Wandel von Erziehungsvorstellungen