Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe

Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe gilt häufig als unreif. Jürg Willi betont den Wert dieser Sehnsucht, auch wenn sie nicht erfüllbar ist.

Viele sehnen sich nach der wahren, absoluten Liebe - aber gibt es sie überhaupt? © Hinterhaus Productions/Getty Images

Der Artikel „Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe" von Jürg Willi ist zuerst erschienen in Psychologie Heute 02/2005. Im des Zuge des 50-jährigen Jubiläums von Psychologie Heute empfiehlt die Redaktion Artikel aus jedem Jahrzehnt unseres Magazins.

Der Text wurde inhaltlich unverändert übernommen. Zur besseren Lesbarkeit wurden Zwischenüberschriften nachträglich eingefügt.

Die Liebe ist kein einheitliches Phänomen. Sie hat viele Gesichter und gründet in weiten Teilen im Unbewussten und Unausgesprochenen. Als Ganzes bleibt die Liebe ein Geheimnis. Dennoch können verschiedene Formen von Liebe unterschieden werden: die Partnerliebe, die leidenschaftlich-sinnliche Liebe und die absolute Liebe.

Die Besonderheiten der Partnerliebe: Das Paar handelt rational und vernünftig einen Beziehungsvertrag aus, definiert die zu beachtenden Regeln, legt Wert auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, Geben und Nehmen sind ausgeglichen. Die Partnerliebe definiert auch die Qualitäten der Liebe wie Festigkeit, Verlässlichkeit, Fürsorglichkeit, Einfühlung, Respekt und Offenheit.

Die leidenschaftlich-sinnliche Liebe betrifft die erotische Spannung, das Spiel der Verführung, des Anlockens und Abstoßens, den Tanz, das leidenschaftliche Begehren und die Lust.

Warum haben wir diesen Artikel ausgewählt?

Redakteurin Katrin Brenner über den Artikel „Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe":

Der Schweizer Psychoanalytiker Jürg Willi gilt als Pionier der Paartherapie im deutschsprachigen Raum. Für mich persönlich hat kaum jemand so gründlich, so differenziert und so erfolgreich über Liebesbeziehungen nachgedacht, geforscht und geschrieben wie er. Im Jahr 2005 konnten wir ihn für diesen Beitrag gewinnen, der sich mit unbewussten Ängsten in Liebesbeziehungen beschäftigt und mit der häufig verschwiegenen „Sehnsucht nach der absoluten Liebe“ – sowie ihrer Unerfüllbarkeit. In diesem Artikel beschreibt er den Wert dieser häufig schambesetzten Sehnsucht und was diese mit dem Streben nach Transzendenz zu tun hat. Dieser Artikel sowie Jürg Willis Bücher Die Zweierbeziehung, Die Therapie der Zweierbeziehung sowie Psychologie der Liebe haben in mir den Wunsch geweckt, mich tiefer mit dem Konzept der Kollusion, dem unbewussten Zusammenspiel in Partnerschaften, zu beschäftigen und mich Jahre später paartherapeutisch fortzubilden.

Die absolute Liebe ist die bedingungslose, durch nichts zu beeinträchtigende, uneingeschränkte, reine Liebe. Die Sehnsucht nach dieser Form der Liebe bildet die Grundlage einer Liebesbeziehung. Während über die ersten beiden Aspekte der Liebe gesprochen werden kann – auch in einer Paartherapie –, wird die Sehnsucht nach der absoluten Liebe von den Betroffenen geschützt und schamhaft geheim gehalten. Die Angst ist groß, in diesen intimen Gefühlen verletzt zu werden, lächerlich, kindisch, schwach und unreif zu wirken. Viele Menschen haben noch nie mit jemandem darüber gesprochen.

Bereits 1991 habe ich diese Sehnsucht in meinem Buch Was hält Paare zusammen? als Sehnsucht nach dem Aufgehobensein in der Liebe beschrieben. Es handelt sich um ein Aufgehobensein in einem doppelten Sinne des Wortes: Zum einen meint Aufgehobensein Geborgenheit. Man fühlt sich in der Beziehung bedingungslos angenommen, der andere ist ein Zuhause, eine Heimat, man hat unbedingtes Vertrauen zu ihm.

Vom Wunsch als Paar eins zu werden

Zum andern gibt es noch eine absolutere Form von Aufgehobensein, nämlich den Wunsch, alles Trennende zwischen zwei Menschen möge durch die Liebe verschwinden. Die Liebenden bilden das Zentrum des Kosmos, um das sich alles dreht. Sie genügen sich selbst. Sie brauchen nichts und niemanden. Sie verstehen sich ohne Erklärung, ohne Worte.

Das Aufgehobensein in der absoluten Liebe hat eine religiöse Qualität. Man glaubt, das Wunder der Liebe werde einem von Gott geschenkt, es sei eine höhere Macht im Spiel, man sei füreinander bestimmt, seit jeher und für immer, im Leben wie im Tode. Wenn wir annehmen, dass Religiosität eine existenzielle Bedingung menschlichen Lebens ist, stellt sich die Frage, inwiefern die Sehnsucht nach dem Aufgehobensein in Gott heute häufig stellvertretend in der absoluten Partnerliebe gelebt und erfahren wird.

Der Schriftsteller Carlos Fuentes beschreibt die Sehnsucht nach der absoluten Liebe mit folgenden Worten: „Die Liebenden wissen (auch wenn sie es, blind vor Leidenschaft, negieren), dass ihre Liebe begrenzt ist – wenn nicht im Leben, dann im Tod… Aber im Leben, befriedigt uns da die absoluteste und erfüllendste Liebe? Wollen wir nicht immer mehr? Wenn wir unendlich wären, wären wir Gott, sagt der Dichter. Aber wir wollen wenigstens unendlich lieben. Es ist unsere mögliche Annäherung an das Göttliche.“

Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe wird in der psychoanalytischen Literatur etwa von Freud als Wiederherstellung des primären Narzissmus, als ein ozeanisches Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt beschrieben oder von Sándor Ferenczi als Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterleib. Meines Erachtens geht es dabei um weit mehr, nämlich um die Sehnsucht nach einem Aufgehobensein im Tode, wie es Menschen mit Nahtoderfahrungen erleben. Die Betroffenen berichten, wie sie aus dem Körper austreten und einem hellen Licht begegnen und sie von einer unbeschreiblichen, tiefen und bedingungslosen Liebe erfüllt werden. Nachdem sie das Bewusstsein wiedergewonnen hatten, äußerten Betroffene, sie freuten sich jetzt auf den Tod. Sie fühlten sich wie verwandelt und richteten ihr Leben auf neue, stärker mit Liebe erfüllte Werte aus.

Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe ist ein bloßer Seinszustand, ohne Differenzierung in Ich und Du, ohne sich bewusst zu werden, worin diese Anziehung besteht, wie sie entstanden ist, was sie bezweckt oder worin das Spezielle am neuen Partner und in der sich anbahnenden Beziehung liegt. Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe ist ein innerer Prozess, der einseitig, sogar ohne Wissen des Partners ablaufen kann.

Alles beginnt mit einem Signal: Blickkontakt

Wie kommt es nun aber zu einer konkreten Beziehung? Das Signal, dass man bereit ist, sich auf eine Liebesbeziehung einzulassen, ist meist der Blickkontakt. Einer der beiden Partner versucht, den Blick des anderen einzufangen, ihn auf sich zu ziehen und darin zu verharren. Sich in die Augen sehend, tauchen die Partner ineinander ein. Die Partner schauen in das Innerste des anderen und offenbaren gleichzeitig ihr eigenes Innerstes. Der Blick hat seine Sprache ohne Worte, eine Sprache ohne die Verbindlichkeit des gesprochenen Wortes. Die einander Anblickenden fühlen sich magnetisch voneinander angezogen, aber es kommt nicht zu einer Verschmelzung. Vielmehr gilt es, die Spannung der starken Anziehung auszuhalten, sich im spannungsvollen Blick zu begegnen, sich die Stirn zu bieten, was lustvoll ist, aber auch Kraft braucht und eine gute Verankerung im Selbst voraussetzt, um sich nicht aufzulösen oder erdrückt zu werden.

Real und konkret wird die Beziehung aber erst durch den sprachlichen Austausch. So intensiv der averbale Austausch sein mag, das sich dabei Ereignende ist jederzeit widerrufbar, kann sich in Luft auflösen und als Fata Morgana erweisen. Erst durch die Sprache nehmen die Partner einander als Personen wahr. Erst mit der Sprache werden Fakten in die Welt gesetzt, die nicht mehr löschbar sind.

Gibt es die absolute Liebe überhaupt?

Mit der gesprochenen Sprache tritt auch das Trennende zwischen die Liebenden. Mit dem ersten gesprochenen Wort hört das fraglose Aufgehobensein auf, das Trennende wird unausweichlich in die gemeinsame Welt gesetzt. Je intensiver der sprachliche Austausch ist, desto offensichtlicher wird: Die Verständigungsmöglichkeiten sind begrenzt, die Beziehung ist nicht bedingungslos, es werden Erwartungen gestellt, Hoffnungen gehegt, die zur konkreten Erfüllung drängen. Die Partner werden konfrontiert mit der Tatsache, dass der oder die Geliebte anders ist als man selbst, aber auch, dass die eigene Liebesfähigkeit voller Widersprüche ist. Sie werden konfrontiert mit der Tatsache, dass die Sehnsucht nach der absoluten Liebe nicht erfüllbar ist. Folgende Gründe sind dafür verantwortlich:

1. Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe ist nicht erfüllbar, weil der Partner eine eigene Person ist.

In seiner Geschichte, seiner Geschlechtszugehörigkeit, seinem Lebensalter, seiner Lebenserfahrung, seinen Wertvorstellungen und Lebenszielen unterscheidet sich ein Mensch vom anderen. Immer und überall werden die Liebenden mit der Tatsache konfrontiert, zwei getrennte Wesen zu sein, die sich zwar verständigen und wechselseitig anregen können, die sich aber nie ganz verstehen. Sie müssen laufend Verständigungsarbeit leisten, versuchen, sich zu erklären, aber trotz ernsthafter Bemühung bleiben sie sich im Letzten fremd, bleibt jeder allein. Auch die radikalste Bemühung zu Offenheit und Selbstoffenbarung zerschellt am Verstehenshorizont des Partners, denn dessen Wahrnehmung wird von seinem eigenen Erfahrungsschatz bestimmt.

2. Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe ist nicht erfüllbar, weil jeder der Partner mit seinen eigenen widersprüchlichen und angsterfüllten Liebesgefühlen zu kämpfen hat.

Denn neben der Sehnsucht nach der absoluten Liebe gibt es auch den Wunsch nach Freiheit, Unabhängigkeit und Abwechslung. Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe wird durchkreuzt durch Ängste vor Abhängigkeit, der Angst, sich selbst zu verlieren und für den Partner aufgeben zu müssen. Aus diesem Zwiespalt heraus kann Liebe ambivalent sein, schwankend zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und Distanz, unberechenbar und sich jeder Verpflichtung entziehend und damit oftmals zutiefst verletzend. Es kann sich ein Chaos von Gefühlen entwickeln, von Liebessehnsucht, Frustration, Wut auf den Partner und auf sich selbst, von Scham und Schuldgefühlen über das eigene Ungenügen.

3. Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe wird verletzt, wenn ein Partner eine verheimlichte Außenbeziehung eingeht.

Die andere Beziehung spaltet die Liebe, zerstört deren Ganzheitlichkeit und verrät ihre Reinheit. Das Abenteuer des Neuen, Fremden, das Erobern erfüllt den Untreuen zunächst mit der leidenschaftlichen Energie der sinnlichen Liebe. Den Betrogenen trifft die Untreue des anderen aber im innersten Kern und wird oftmals erfahren wie der Tod. Es wird dem Liebenden der Boden unter den Füßen weggezogen, das ganze Gebäude, auf dem er sein Leben aufgebaut hatte, bricht in sich zusammen.

So wird die Sehnsucht nach der absoluten Liebe konfrontiert mit ihrer Unerfüllbarkeit. Die Partner bleiben einander bis zu einem gewissen Grad fremd und sind in der Liebe letztlich auch einsam. Das ist eine der tiefsten Enttäuschungen des Lebens, bestand doch die Hoffnung, zumindest in der Liebesbeziehung nie mehr allein sein zu müssen. Die Verarbeitung dieser Enttäuschung erfordert einen leidvollen Prozess der Reifung.

Gelebte Liebe präsentiert sich in einer kompromissvollen, wenig erbaulichen Form. Die geglückten Lichtseiten gehen mit Schattenseiten einher. In langjährigen Beziehungen erleben die Partner immer wieder Momente, in denen sie sich bedingungslos aufgehoben fühlen beim anderen. Doch diese Momente werden schnell von der Alltagswirklichkeit überdeckt. Nicht alle Menschen wollen sich mit dieser auf Momente beschränkten Erfüllung zufrieden geben. Ihre Sehnsucht ist so übermächtig, dass sie nach Wegen suchen, die absolute Liebe dauerhaft leben zu können. Sie versuchen dies auf unterschiedliche Weise:

„Bloß keinen Streit!“

Manche Paare versuchen, sich den Zustand des Verliebtseins durch ein Zusammenleben in vollkommener Harmonie zu erhalten. Sie weichen jeder Auseinandersetzung aus, mit der offenbar werden könnte, dass zwischen den Partnern Meinungsverschiedenheiten bestehen. Sie befürchten, durch Streit könnte es zu einer Eskalation und zum Bruch der Beziehung kommen. Allerdings ist diese Befürchtung nicht unbegründet, handelt es sich doch oftmals um Paare, deren scheinbar vollkommene Harmonie sehr brüchig ist und wenig Spannung erträgt. Sie glauben, sich Streitigkeiten gar nicht leisten zu können. Nicht selten zerstört dann der eine der beiden Partner die bisherige Harmonie durch eine Außenbeziehung, was erstmals zu heftigen Auseinandersetzungen führt.

Am anfälligsten sind Paare, die in der Öffentlichkeit stehen, etwa Sportstars, Prominente aus dem Hochadel oder aus dem Showbusiness. Die Öffentlichkeit will sie als Traumpaare sehen, mit Traumhochzeit und Traumbeziehung. Sie werden auf ungetrübtes Glück verpflichtet, mit der Folge, dass sie sich die für eine gesunde Entwicklung der Beziehung notwendigen Krisen gar nicht leisten können. Eben noch als glücklich gepriesen, erfährt man meist nach kurzer Zeit von ihrer Trennung und Scheidung.

„Ich bin zur Liebe bereit, aber du weichst meiner Liebe aus“

Es kann einem der beiden Partner gelingen, die reine und absolute Liebe zu leben, wenn der andere die entgegengesetzte Rolle übernimmt und das Liebesideal abwehrt. Diese Rollenaufteilung geschieht meist unbewusst oder zumindest unausgesprochen. In derartigen kollusiven Arrangements übernimmt es ein Partner, die Erfüllung der reinen Liebe zu enttäuschen, etwa indem er ambivalent zwischen Nähe und Distanz schwankt, in seiner Liebe unverlässlich wirkt oder chronisch untreu ist. Man scheint den falschen Partner gewählt zu haben, um die reine und absolute Liebe leben zu können. Man hätte einen Partner gebraucht, der weniger bindungsscheu wäre und eindeutiger zur gemeinsamen Liebe stehen könnte. Weshalb hat man das nicht getan? War es doch von Anfang an offensichtlich, dass dieser Partner vor der absoluten Liebe zurückscheut!

Die eigene Liebe gewinnt Kraft und Absolutheit, wenn man deren Schattenseiten an den Partner delegieren kann. Die Schuld am Versagen liegt dann bei ihm. Die absolute Sehnsucht nach liebender Nähe des einen und deren Ablehnung durch den anderen scheinen sich wechselseitig zu bedingen wie die beiden Seiten derselben Medaille. Je mehr der eine die verpflichtende Liebe vertritt, desto mehr plädiert der andere für deren Unverbindlichkeit. Die Partner verklammern sich in heftigen Vorwürfen.

„Ich liebe dich – auch wenn du dieser Liebe nicht würdig bist“

Man wählt einen Partner, dem man die absolute Liebe schenken möchte, gerade weil er selbst sie nicht zu erwidern vermag. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn man beim anderen eine frühe tiefe Verletzung seiner Liebesfähigkeit aufspürt. Die Echtheit und Größe der Liebe wird darin gesehen, dass sie nicht von Gegenliebe abhängig ist. Die Liebenden fordern keine Gegenleistung für ihre Liebesdienste, sondern möchten den Geliebten verwöhnen, umsorgen und pflegen, ohne ein Entgelt dafür zu erwarten. Sie lieben scheinbar bedingungslos, ohne zu messen, zu wägen und zu rechnen. Die Größe der Liebe wird darin offenbar, dass der Geliebte ihrer nicht würdig ist. Der Geliebte kann die liebende Person ausbeuten, undankbar sein, sie rücksichtslos abweisen, sie mit wiederholten Fremdbeziehungen verletzen – die absolute Liebe ist durch keine Gemeinheit des Geliebten zu erschüttern und entzieht sich jedem rationalen Verständnis.

Manchen Menschen erscheint die liebende Person abhängig, hörig, ja sadomasochistisch gebunden. Oft hat sie ein schlechtes Selbstwertgefühl, wagt für sich selbst keine Liebe einzufordern und hat sich als Liebespartner nur einen Menschen zugetraut, der in seinem Leben noch nie wirkliche Liebe erfahren hat. Sie glaubt, um Vertrauen in die Liebe gewinnen zu können, müsse der Geliebte austesten, wie viel die ihn liebende Person ertragen kann. Die Größe der Liebe wird bemessen am Leiden, das für sie auf sich genommen wird. Manche glauben, über die Fähigkeit zu verfügen, den Geliebten retten und ihm ein neues Leben schenken zu können. Manche verlegen die reale Erfüllung der großen Liebe auf das Leben im Jenseits. Ihre Überzeugung, füreinander bestimmt zu sein, ist unerschütterlich, auch wenn man erst im Tode miteinander vereint sein sollte.

Trotz ihrer Unerfüllbarkeit ist die Sehnsucht nach der großen und bedingungslosen Liebe bis heute nicht verschwunden. Ohne den großen Entwurf der Liebe fühlen sich manche gar nicht richtig lebendig. Sie glauben, neben dem Leben zu stehen, als Zuschauer und nicht als Akteure. Die Unvernunft soll dem Leben neue Dimensionen verleihen, für die es sinnvoll ist zu leben. Eingebunden in eine rational durchstrukturierte Gesellschaft, eingebunden in ein Berufsleben, wo alles kalkuliert und kontrolliert wird, möchte man zumindest in der Liebe aus dem Korsett der Normen ausbrechen und das Leben aus seinem Mittelmaß herausheben. Wenig berührt von den heutigen kirchlichen Angeboten, sucht man in der großen Liebe den Zugang zum Transzendenten.

Paartherapie: über Liebessehnsüchte sprechen

Das Thema Liebe muss daher auch in der Paartherapie zunehmend Beachtung finden. Denn nichts fordert die persönliche Entwicklung so heraus wie die Liebesbeziehung. Doch vielen Menschen fällt es schwer, vor dem Partner oder der Partnerin über intime und schamhaft geschützte Liebessehnsüchte und deren Verletzungen zu sprechen. Das gelingt im schützenden Rahmen des Einzelgespräches besser, vorausgesetzt der Therapeut ist bereit, sich auf einen Dialog über die Liebe einzulassen. Er sollte die Sehnsucht nach absoluter Liebe akzeptieren und verstehen und nicht als pathologisch infrage stellen oder zu deuten versuchen. Denn das Leiden an der absoluten Liebe ist ein unausweichlicher Aspekt der menschlichen Existenz, ein normales Drama, eine normale Tragik.

Mit der Liebe Großes anzustreben ist nicht einfach eine krankhafte Illusion. Die Vision des Verliebtseins bildet trotz aller Enttäuschung eine wichtige Grundlage einer dauerhaften Liebe. Das Unvernünftige kann gelingen. Das Risiko einzugehen kann sich lohnen, wenn es auch mit großen, eventuell krankmachenden Schmerzen verbunden ist. Man kann damit scheitern, man kann ausgebeutet und betrogen werden, man kann es bereuen, dass man meinte, das Unmögliche möglich zu machen, und dafür die Lebensenergie seiner besten Jahre eingesetzt hat. Man kann allerdings auch die Haltung haben, lieber am Großen zu scheitern, als in kleinmütiger Absicherung zu verkümmern. Ich halte es mit Shakespeare, der sagte: „It is better to have loved and lost, than never have loved at all.“

Gekürzte und bearbeitete Fassung eines Vortrages, den Jürg Willi im September 2004 auf dem Kongress „Paartherapie – im Fokus die Liebe“ gehalten hat. Die Vorträge dieses Kongresses werden Ende 2005 von Jürg Willi, Helke Bruchhaus Steinert und Bernhard Limacher im Klett-Cotta Verlag herausgegeben. Der Titel: Liebe therapieren? Das Thema Liebe in der Paartherapie.

Professor Dr. med. h. c. Jürg Willi ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitet das Institut für ökologisch-systemische Therapie in Zürich.

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Quellen:

Sigmund Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. GW VIII, 66–91, 1910

Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. GW IV, 421–506, 1934

Carlos Fuentes: Woran ich glaube. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002

Jürg Willi: Was hält Paare zusammen? Rowohlt, Reinbek 1991

Jürg Willi: Psychologie der Liebe. Klett-Cotta, Stuttgart 2002

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