„Ich sehe ein Paar, das sich offensichtlich kennt und vertraut. Er ist vielleicht gerade im Begriff, etwas überstürzt aufzubrechen. Oder kam er gerade an? Sie findet es schade, dass er nicht neben ihr sitzt, da ist viel Platz auf der Bank. So geht es ihm auch, er würde gern bleiben, aber er muss los. Er hat es eilig und wirkt gestresst. Doch er will ihr unbedingt noch etwas auf seinem Smartphone zeigen, das ihm sehr wichtig ist. Oder vielleicht ist auch sie es, die ihm das Handy reicht, damit er das anschaut.
Das ist sicher kein witziges Katzenvideo, was da auf dem Display zu sehen ist. Auch kein längerer Artikel, dafür hat er jetzt keine Zeit. Es muss eine Nachricht sein oder ein Foto, etwas persönlich Bedeutsames, nicht bloß Unterhaltung und Ablenkung. Ich fürchte, es ist etwas Ernstes. Vielleicht ist in der Familie, im Umfeld der beiden etwas passiert.“
Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?
„Ich bin selbst ein Handyjunkie und kommuniziere ständig über dieses Medium, zeige anderen Sachen auf dem Display. Ohne das Handy fühle ich mich fast nackt. Es ist eines meiner wichtigsten Arbeitsgeräte neben meinem Laptop und meinem Rollstuhl. Wenn ich in Gegenwart vertrauter Menschen auf meinem Smartphone herumtippe, nervt sie das natürlich, so wie mich ein solches Verhalten auch umgekehrt nervt. Dann habe ich ein schlechtes Gewissen.
Diese Beklommenheit habe ich auch beim Betrachten dieses Bildes gespürt. Aber es ist nun mal wirklich wichtig, was ich da am Handy zu erledigen habe, vielleicht unterstelle ich diese Dringlichkeit deshalb auch beim Deuten dieser Szene. Allerdings habe ich den stillen Verdacht: Wahrscheinlich argumentieren suchtkranke Menschen ganz ähnlich.“
Raúl Krauthausen setzt sich für Behindertenrechte und Inklusion ein. Er bloggt (raul.de), moderiert die Talkshow Krauthausen – face to face (krauthausen.tv) und schreibt Bücher. Aktuelles Projekt: eine journalistische Recherche zu Gewalt in Heimen auf ableismus.de