„Manche bekommen schon beim Gedanken an die Arbeit Panikattacken“

Sie hindern Menschen daran, ihrem Job nachzugehen. Beate Muschalla über arbeitsplatzbezogene Ängste und warum Krankschreiben selten eine Lösung ist

Ein Mann im Business-Look steht in einem gläsernen Aufzug in einem sehr modernen, aber kalten Bürogebäude
Je näher er dem Zielstock kommt, desto stärker wird sein Zittern. Das Büro zu betreten ist ein Alptraum. © Jakob Schnetz

Frau Muschalla, als Sie vor rund zwanzig Jahren Ihr Praktikum in einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik absolvierten, machten Sie eine interessante Beobachtung: Obwohl die Patienten ihre Angststörungen oder Depressionen überwunden hatten, zögerten sie, zur Arbeit zurückzukehren. Woran lag das?

Wir waren damals immer wieder irritiert. Obwohl die Betroffenen wieder gesund waren, wollten sie gern länger krankgeschrieben werden. Eine Grundschullehrerin etwa sagte mir in einer Sitzung: „Frau Muschalla, in…

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krankgeschrieben werden. Eine Grundschullehrerin etwa sagte mir in einer Sitzung: „Frau Muschalla, in acht Wochen sind ­Ferien. Warum soll ich jetzt zurückkehren und alles durcheinanderbringen? Das geht doch nicht.“

Sie gründeten dann eine Forschungsgruppe, um das Phänomen systematisch zu untersuchen. Was fanden Sie heraus?

Dass die Lehrerin von damals an einer arbeitsplatzbezogenen Angststörung litt. Rund vier Millionen Menschen hierzulande erleben Zittern, Angstgedanken, Schweißausbrüche und Herzrasen, wenn sie an die Arbeit denken.

Sie haben damals intensiv mit den Betroffenen gesprochen. Wovor fürchteten sie sich?

Diese Menschen haben Ängste und Sorgen, was sie bei der Arbeit erwartet. Sie fragen sich, was sich während ihrer Abwesenheit verändert hat und ob sie noch willkommen sind. Sie befürchten, viele Neuerungen verpasst zu haben, und fühlen sich nicht bereit, die möglicherweise angesammelte Arbeit wieder aufzunehmen. Diese Unsicherheiten und Ängste hemmen sie. Die Menschen denken: „Ich gehe da nicht wieder hin, vielleicht später oder am besten nie wieder.“

Sollte man sich in solch einer Situation krankschreiben lassen?

Davon rate ich eher ab. Ängste können sich dadurch verhärten und auf andere Bereiche ausweiten. Wir nennen dies ­Generalisieren. Die Angst betrifft dann nicht mehr nur eine konkrete Arbeitssituation, sondern auch den Smalltalk in der Kaffeeküche, Gespräche mit der Chefin oder das neue Softwareprogramm, das nun alle nutzen sollen. Irgendwann wird der gesamte Arbeitsplatz zu einem angstauslösen-den Faktor.

Was passiert dann?

Wenn Betroffene der Arbeit lange fernbleiben, führt das zu weiteren Problemen. Sie verpassen wichtige Informationen, verlieren den Anschluss. Das verschlechtert die Lage zusätzlich. Sie sind wegen der Situation sehr angespannt und suchen den Hausarzt wegen Rückenschmerzen, Kopfweh oder Magenbeschwerden auf. Und dann werden sie krankgeschrieben. Und wieder krankgeschrieben. Das Problem ist also: Wenn niemand versteht, worum es wirklich geht – nämlich nicht um einen Magen-Darm-Infekt, sondern um eine langsam wachsende arbeitsbezogene Angst –, kann das schwerwiegende Folgen haben. Ohne gezielte Maßnahmen führt diese Angst häufig zu einer langzeitigen Arbeitsunfähigkeit. Betroffene verlieren ihren Job und haben dann als arbeitslose Person Angst, sich auf dem Arbeitsmarkt zu zeigen.

Was haben Sie in Ihrer Forschung über diese Ängste herausgefunden?

Ich bin damals als junge Doktorandin durch die Klinik gelaufen und habe alle zu ihrer Arbeitssituation und ihren arbeitsbezogenen Ängsten befragt. Wir haben innerhalb einiger Jahre eine Typologie erstellt und Ängste nach ihren Funktionsweisen sortiert. Da ist zunächst die Sorgenangst. Hier machen sich Betroffene übermäßig viele Gedanken über alltägliche Arbeitsprobleme. Sie denken ständig an mögliche Fehler oder Schwierigkeiten und sie werden von Dingen gequält, die noch nicht eingetreten sind. Sie liegen dann etwa abends im Bett und grübeln, ob sie wohl eine E-Mail falsch beantwortet haben und was daraus folgen könnte. Das Gehirn produziert also ständig neue Sorgen.

Welche arbeitsplatzbezogenen Ängste gibt es noch?

Neben der Sorgenangst gibt es noch die Arbeitsplatzphobie. Diese hatten andere Wissenschaftlerinnen bereits beschrieben, bevor wir eine genaue Kategorisierung vornahmen. Dazu hat ein neuseeländisches Forschungsteam Betroffene verkabelt und ihnen aufgetragen, sich vorzustellen, wie sie zu ihrem Arbeitsplatz gehen. Dabei wurden die Herzfrequenz und andere physiologische Angstsymptome aufgezeichnet. Die Ergebnisse zeigen, dass die körperliche Anspannung stieg, je näher die Patienten dem Büro gedanklich kamen. Als sie sich davon wieder entfernten, nahm die Anspannung ab. Die Angst zeigt sich in diesem Fall als panische Reaktion auf die Vorstellung oder das Betreten des Arbeitsplatzes. Betroffene bekommen schon beim Gedanken daran Panik­attacken.

Was ist mit den Kollegen und Kolleginnen: Sind die nicht auch ein Grund für mögliche Ängste?

Allerdings, das nennt sich soziale Angst. Sie betrifft die Interaktion mit Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzten oder Kunden und zeigt sich oft als Unsicherheit und Hemmung in sozialen Situationen oder als Überempfindlichkeit gegenüber der Meinung anderer. Ein Mitarbeiter lässt sich etwa, sobald eine Besprechung anfällt, entschuldigen, weil er Kritik von Kollegen oder der Chefin fürchtet. Viele Menschen mit solchen Ängsten haben oft noch Jahrzehnte ihres Arbeitslebens vor sich.

In welchem Rahmen entstehen denn die arbeitsbezogenen Ängste?

Etwa zwei Drittel der Menschen mit Arbeitsängsten haben bereits eine andere Grunderkrankung. Diese Patienten sind also vorbelastet, sie haben beispielsweise eine Depression. In einer Krankheitsphase ist die Stimmung dann schlecht, der Antrieb fehlt, und sie haben Gedanken wie: „Ich bin völlig ungeeignet für diesen Job. Ich kann das nicht richtig, und niemand hat es bemerkt. Die neuen Programme und die Fusion der Firma schaffe ich nicht. Ich bin eine Belastung für meinen Arbeitgeber.“ Sie wollen dann kündigen.

Wie sollten Therapeutinnen und Therapeuten damit umgehen?

Sie müssen die Patienten davon abhalten. Wir sprechen oft über Patientenautonomie und den Willen des Patienten, besonders bei psychischen Erkrankungen. In solchen Krankheitsphasen kann es allerdings fatal sein, reflexartig anzunehmen, dass die Patientin recht hat und ihren Job kündigen sollte. Das kann zu noch größeren Problemen führen. Eine wichtige Regel lautet daher: Triff keine weitreichenden Lebensentscheidungen während einer akuten Krankheitsphase.

Gibt es auch Menschen, die von der Angst plötzlich überfallen werden?

Es gibt tatsächlich situativ gelernte Ängste bei Menschen, die zuvor nie ängstlich waren oder keine Angsterkrankung hatten. Unter bestimmten Bedingungen können sie dennoch Ängste entwickeln.

Ich erinnere mich an eine Managerin im mittleren Alter. Sie hatte ihr Leben lang in Leitungspositionen gearbeitet und war selbstbewusst. Dann kam sie in eine neue Leitungssituation, in der sie mit einer Kollegin eine Doppelspitze bilden sollte. Man wollte sie dort nicht haben, sie wurde gemobbt. Sie entwickelte starke Ängste, wachte morgens mit Herzklopfen auf und zitterte am Frühstückstisch. Bei der Arbeit konnte sie sich nicht konzentrieren, weil sie ständig nach Gefahren Ausschau hielt und sich fragte, was ihr als Nächstes vorgeworfen würde. Mehrere Monate versuchte sie, in diesem Umfeld durchzuhalten, wurde aber krank. Schließlich kündigte sie den Job und kam zu uns in Behandlung. Wir haben ihr geholfen zu verstehen, dass sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Sie hat sich neu beworben und ihr Selbstvertrauen mit positiven neuen Erfahrungen wiedergewonnen.

Wie kann Arbeit noch Angst machen?

Sie hat einige Besonderheiten, die Angst auslösen können: Zum einen gibt es eine Hierarchie, also Vorgesetzte, die weisungsbefugt und sanktionsberechtigt sind. Das kann bedrohlich sein. Dann gibt es das soziale Gerangel, die Machtkämpfe auf kollegialer Ebene. Gerade bei Mobbing ist dies eine der häufigsten Varianten, weil dort, wo Gleichrangige aufeinandertreffen, Konkurrenz entsteht – etwa bei zwei Oberärztinnen, die um eine Leitungsstelle buhlen. Dann gibt es noch Dritte am Arbeitsplatz, wie Kundschaft, Patientinnen oder Schulkinder. Menschen in Berufen, in denen man Beschwerden entgegennimmt oder mit unzufriedenen Klienten zu tun hat, erleben reale Bedrohungen. Und dann sind da noch technische Gefahren und Unfallrisiken, etwa der sogenannte Schienensuizid. Jeder Lokführer erlebt statistisch gesehen etwa zwei davon in seiner Laufbahn.

Hier sind die Arbeitgeber in der Pflicht.

Genau, Lokführer, die einen Suizid während ihres Dienstes erlebt haben, bekommen zunächst drei Tage Ruhe. Sie sollten nach Hause gehen und sich ablenken. Danach werden sie langsam wieder an die Arbeit herangeführt, ohne sofortige Psychotherapie. Die Forschung zeigt, dass es am besten ist, die Betroffenen zunächst in Ruhe zu lassen.

Also gar keine Therapie?

Zunächst sollte man die Akutphase abklingen lassen. Wenn nach Wochen oder Monaten Menschen über nächtliche Schweißausbrüche, Panikattacken und belastende Bilder ­berichten, ist es Zeit zu handeln. Dann kann man erkennen, dass das Gehirn die Erlebnisse nicht selbständig verarbeitet hat. In solchen Fällen ist eine therapeutische ­Unterstützung notwendig. Eine gezielte Psychotherapie kann helfen, diese Reaktionen zu bewältigen.

Woher weiß ich, wenn ich Angst habe, dass die Arbeit das Problem ist?

Wenn man merkt, dass etwas Überwindung kostet und man es vermeiden will, sollte man sich fragen, warum – und schrittweise daran arbeiten. Zum Beispiel so: Wenn man Angst vor Vorträgen in Konferenzen hat, macht man sich einen Plan, um in einem halben Jahr in der Lage zu sein, einen Vortrag zu halten. Wichtig ist, die Ziele realistisch und überschaubar zu halten, um sich nicht zu überfordern. Man kann mit vertrauten Personen das Problem besprechen und mit ihnen üben. Wenn die Ängste zu groß sind, sollte man eine Verhaltenstherapie in Betracht ziehen.

Wie hilft eine Psychotherapie diesen Menschen?

Gegen übermäßige Ängste kann man etwas tun. Zunächst dürfen sich Therapeutinnen und Therapeuten nicht von dem Vermeidungsverhalten anstecken lassen. Sie sollten die Grundschullehrerin also nach einer erfolgreichen Reha­behandlung nicht einfach wochenlang krankgeschrieben lassen. In den Kliniken helfen wir in Einzelgesprächen oder Gruppensitzungen. Dort sprechen wir über Arbeitssituationen und suchen Lösungen für Probleme, machen Rollenspiele und Verhaltensübungen. Die Grundregel ist: Wir wollen eine optimistische Haltung und aktives Bewältigungsverhalten für Arbeitssituationen entwickeln. Wir sprechen nicht unbedingt über die Angst.

Sie therapieren also am Symptom vorbei?

Genau, wir erwarten auch nicht, dass die Angst komplett verschwindet. Im Gegenteil, am Tag vor der Entlassung kommt sie oft stark zurück. Dann muss man noch mal Schwung mitgeben, alle bisher erfolgreich bewältigten Schritte durchsprechen und der Patientin helfen, den nächsten Schritt zu gehen. Bloß nicht einknicken. Dafür braucht es auch keine spezielle Ausbildung in „Arbeitsangsttherapie“.

Es ist generell eine wichtige Grundhaltung als Therapeutin oder Therapeut, die Ängste des Patienten zu verstehen, sich aber nicht von ihnen anstecken lassen. Wenn also die Grundschullehrerin kurz vor der Entlassung sagt: „Ich habe mich gestern so sehr mit meinem Mann gestritten“, dann sollte es in der Therapie nicht nur um die Eheprobleme gehen, sondern weiterhin um den Wiedereingliederungsplan. Denn häufig versuchen Betroffene, das angstbesetzte Thema zu vermeiden.

Besteht auch die Gefahr, dass Menschen, denen es schlechtgeht, ihre Probleme nur auf die Arbeit schieben und die eigentlichen Ursachen nicht angehen?

In einer Therapie kann man das herausfinden. Therapeuten stellen viele Fragen, um das Problem gut zu verstehen. Wir merken dann: Wo reagiert der Patient? Welches Thema ist ganz locker und gar nicht der Rede wert? Wo wird es schwierig und wo fangen die Betroffenen an, etwas zu vermeiden? Gemeinsam kann man herausarbeiten, welche Punkte sie besonders belasten. Oft können die Menschen sehr präzise benennen, was das eigentliche Problem ist.

Sorgt manchmal auch das Verhalten der Betroffenen selbst für die Unruhe im Team?

Durchaus. Mit solchen Menschen würde man dann eher an den eigenen Anteilen arbeiten und neue Verhaltensweisen entdecken. Soziales Kompetenztraining kann dabei helfen, ein größeres Verhaltensrepertoire zu entwickeln und zukünftig weniger Probleme mit anderen Menschen zu haben.

In Rehaeinrichtungen sind viele also mit arbeitsplatzbezogenen Ängsten vertraut. Wie sieht es im ambulanten Bereich aus?

Da hat sich zum Glück einiges getan. Früher lag der Fokus in der Psychotherapie stark darauf, das Wohlbefinden der Patienten zu fördern, Symptome zu lindern und sie wieder gesund zu machen. Es ging darum, Leid möglichst zu vermeiden. Arbeit wurde dabei oft als Stressfaktor gesehen, der Leid verursachen kann. Manche Kollegen meinten daher, man solle das Thema besser meiden. Das hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich verändert. Heute sagen viele: Arbeit ist ein zentraler Lebensbereich – sie prägt Identität, Selbstverständnis und soziale Einbindung. All das stabilisiert die psychische Gesundheit, wenn es gut läuft – wenn der Mensch also geübt hat, aktiv Lösungen für Probleme zu finden.

Sie haben auch an einer Weiterbildung in dem Bereich mitgewirkt.

Genau, es gibt eine Zusatzweiterbildung in der Sozialmedizin: für Ärztinnen und Ärzte und jetzt auch für Psychologische Psychotherapeuten. Sie betrifft die Bereiche, die sich mit beruflicher Teilhabe und gesellschaftlicher Integration befassen. Es geht also darum, dass Gesundheit nicht nur durch Symptomfreiheit besteht – demnach wäre kaum ein Mensch gesund. Wir können auch mit Beeinträchtigungen das Leben und die Arbeit aktiv bewältigen. Sozialmedizinische Behandlungen sind etwa Fähigkeitstrainings: Ein Mensch mit ausgeprägten Sozialängsten kann Smalltalk und Vorträge üben.

Die Kursteilnehmenden lernen, wie sie Patientinnen und Patienten durch das komplexe Sozialsystem navigieren und ihnen die benötigten Leistungen sichern. Dieser Kurs ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen, arbeitsbezogene und soziale Probleme in der Psychotherapie anzugehen.

Mittlerweile können viele Menschen von zu Hause aus arbeiten. Entlastet das Betroffene von Arbeitsplatzangst?

Wenn jemand in seinem Arbeitsalltag zunehmend Angst vor Meetings, großen Gruppen oder Ausflügen mit Kollegen hat und immer mehr Homeoffice macht, verschlimmert das den Zustand. Man sollte in der Lage sein, problemlos auch mal zum Arbeitsplatz zu gehen. Also sollte ein Team am besten feste Tage mit der Führungskraft vereinbaren, an denen dann alle im Büro sind.

Beate Muschalla ist Verhaltenstherapeutin mit Zusatzbezeichnung Sozialmedizin sowie Professorin für Psychotherapie und Diagnostik an der Technischen Universität Braunschweig. Sie beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Arbeitsangst.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie außerdem konkrete Tipps für einen besseren Umgang mit arbeitsplatzbezogenen Ängsten in Was tun gegen Arbeitsangst?

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2025: Pause fürs Pflichtgefühl