Frau Dr. Wardetzki, woran erkennt man Frauen, die eine weiblich-narzisstische Struktur aufweisen?
Ihr Erleben schwankt zwischen Selbstzweifeln und Grandiosität. Auf der einen Seite leiden sie unter starken Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstabwertungen, auf der anderen Seite haben sie eine überhöhte Sicht auf sich, in der sie sich größer, besser und toller machen, als sie wirklich sind. Sie zeigen sich selbstsicher, obwohl sie sich unsicher fühlen, wissen nicht, wer sie wirklich sind, und glauben, besonders sein zu müssen, um gesehen und gemocht zu werden.
Das instabile Selbstwertgefühl und die erlebten emotionalen Verletzungen sollen durch die narzisstische Fassade kompensiert werden. Durch Perfektionismus und besondere Leistungen versuchen sie sich Selbstsicherheit zu verschaffen, laufen aber bei Kritik Gefahr, dass ihr Selbstbewusstsein zusammenbricht.
Auffällig beim weiblichen Narzissmus ist, dass er nach außen gar nicht wie Narzissmus erscheint, der sich ja oft in einer arroganten Selbstbezogenheit und grandiosen Überheblichkeit äußert. Aus diesem Grunde spricht man beim weiblichen Narzissmus auch vom verdeckten im Gegensatz zum offenen Narzissmus. Beide Formen sind aus der existenziellen Not der emotionalen Verlassenheit geboren, doch die Erscheinungsformen unterscheiden sich signifikant. Emotionale Verlassenheit bedeutet, dass niemand da war, der unterstützte, spiegelte und verstand, was für das Kind existenziell notwendig gewesen wäre.
Gibt es auch Männer, die von weiblichem Narzissmus betroffen sind?
Ja, auch Männer können den weiblichen oder verdeckten Narzissmus zeigen. Allerdings in geringerer Zahl als Frauen. Auch Männer können unter starken Selbstzweifeln leiden und suchen sich meist eine Frau mit offen narzisstischen Zügen oder eine Partnerin, die hilfsbedürftig ist. Im Helferverhalten stärken sie ihre Grandiosität, denn damit stellen sie sich über die Frau. Sie wissen, worunter sie leidet und was sie ändern müsste, und versuchen, sie zu retten oder zu verändern, auch wenn sie von ihr abgelehnt werden.
Sogar nach einer Trennung glauben sie, sich um sie kümmern zu müssen, machen sich Sorgen, dass sie ohne sie „vor die Hunde geht“, und hängen noch sehr lange, manchmal jahrelang emotional an ihr. Männer, die von weiblichem Narzissmus betroffen sind, lassen sich ebenso viele seelische Verletzungen und Zurückweisungen in der Beziehung gefallen, wie wir es bei Frauen erleben.
Nie war der Fokus auf Selbstakzeptanz und eigene Fürsorge so stark wie heute. Wie viel Selbstliebe ist gesund und wo beginnt Narzissmus?
Selbstliebe ist der Ausdruck für die Überzeugung, ein wertvoller und liebenswerter Mensch zu sein, ohne einem idealen Bild entsprechen zu müssen. Werden Attribute oder Fähigkeiten dafür genutzt, das ideale Bild zu präsentieren, um Insuffizienzgefühle zu überdecken und vor anderen bestehen zu können, dienen sie der narzisstischen Selbstverliebtheit. Auf diese Weise können beispielswiese eine gesunde Ernährung, sportliche Fitness und Attraktivität der Ausdruck einer narzisstischen Haltung oder gesunden Selbstfürsorge sein.
Dieselben Verhaltensweisen können also entweder Ausdruck von Bedürfnissen, Wünschen und Wertvorstellungen sein oder primär im Dienst der narzisstischen Selbsterhöhung stehen. Die Frage, wo gesunde Selbstliebe aufhört und Narzissmus beginnt, ist nicht einfach zu beantworten, da es immer Überschneidungen gibt, auch weil die narzisstische Ausprägung je nach Situation und Kontext stärker oder weniger stark zutage tritt.
Dr. Bärbel Wardetzki, Diplompsychologin, ist in München als Psychotherapeutin und Supervisorin tätig. Sie gilt als Narzissmusexpertin und hat zahlreiche Bücher zu diesem Thema veröffentlicht.
Bärbel Wardetzkis Buch Ist es noch Selbstliebe oder schon Narzissmus? Den weiblichen Narzissmus verstehen und überwinden ist bei Kösel erschienen (176 S., € 18,–)