Frau Pohl, Sie beraten Menschen, die auf dem Markt der „neuen Sinnanbieter“ Schiffbruch erlitten haben. Wie sieht eine typische Fallgeschichte aus?
Man kann auf unterschiedliche Art und Weise kentern. Manche Menschen beispielsweise geraten in Gruppenstrukturen, die Abhängigkeiten erzeugen und sehr vereinnahmend sind, und sie brechen alle Kontakte zur Außenwelt ab. Sehr häufig haben wir es mit Menschen zu tun, die auf dem Markt der spirituellen Möglichkeiten verschiedene Angebote oder Produkte – meist kostenpflichtig – ausprobiert haben. Ich denke da zum Beispiel an Frau M., die, wie sie es selbst bezeichnete, eine „Esoteriksucht“ entwickelt hatte.
Sie wurde von ihrem Partner verlassen und konsultierte daraufhin einen astrologischen Lebensberater, der ihr versprach, ihr Partner werde zurückkommen. Als das nicht funktionierte, orderte sie im Internet einen Liebeszauber. Ein weiterer Anbieter sagte ihr, sie müsse stärker an ihrem spirituellen Wachstum arbeiten – sie buchte einen Kurs bei ihm. Frau M. verlernte, selbst Entscheidungen zu treffen, und entwickelte immer mehr Sorgen und Ängste. Diese bekämpfte sie wiederum mit Heilsteinen und Raumsprays. Als sie mit mir Kontakt aufnahm, war Frau M. völlig orientierungslos und finanziell abgebrannt. Spiritualität war für sie keine Ressource mehr.
Warum bergen kommerzialisierte Formen von Spiritualität ein besonderes Risikopotenzial?
Längst hat die Wirtschaft Spiritualität für sich entdeckt und vermarktet Angebote gezielt. Doch die käuflichen Produkte haben Schattenseiten. Wenn etwa manipulative Vermarktungsstrategien angewendet werden, kann nicht nur wirtschaftlicher Schaden entstehen, sondern es hat auch Auswirkungen auf die Psyche von Menschen. Wenn psychische Probleme spiritualisiert werden und dadurch eine adäquate Hilfe verhindert wird, sehe ich ein hohes Risikopotenzial.
Woran erkenne ich, dass Menschen in meinem Umfeld sich in spiritueller Hinsicht radikalisieren?
Zwar gibt es einerseits einen Trend hin zu einer „Wellnessspiritualität“, doch gleichzeitig interessieren sich Menschen immer noch für harte Formen von Spiritualität. Radikale Glaubensentwürfe bieten Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit Gleichgesinnten, klare Handlungslinien und damit auch Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt. Zunächst ist es wichtig zu verstehen, welche Bedürfnisse Menschen sich in radikalen Gruppierungen erfüllen.
Meist neigen Menschen, die eine Gruppierung gerade neu für sich entdeckt haben, selbst zu einer gewissen Radikalität: Manchmal verändert jemand zum Beispiel sein Äußeres oder beginnt, andere abzuwerten, pflegt Feindbilder und teilt die Welt zunehmend in Gut und Böse ein. Oft kommt es auch zu einer Entfremdung von Familie und Umfeld.
Was kann ich als Angehörige oder als Freundin in einem solchen Fall tun?
Das Wichtigste, was man tun kann, ist, Kontakt zu halten, auch wenn das oft das Schwierigste ist. Kritik sollte gerade in der Anfangsphase vorsichtig und mit viel Empathie und Wertschätzung formuliert werden, sonst macht der andere meist recht schnell dicht. Stellen Sie Fragen, hören Sie zu und signalisieren Sie dem anderen: „Du bist mir wichtig. Was du glaubst, interessiert mich.“ Vielleicht gelingt es Ihnen ja zu verstehen, weshalb die neue Gruppierung den anderen so begeistert. Dabei geht es nicht darum, die Ideologien zu verstehen, sondern Bedürfnisse, Gefühle oder Ängste, die ihn in die Arme der Gruppierung getrieben haben. Auf dieser Basis sind dann oft auch wieder Gespräche und Austausch möglich.
Dr. Sarah Pohl, Diplompädagogin, systemische Paar- und Familienberaterin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg
Sarah Pohls Buch Spiritueller Schiffbruch? Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen ist bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen (155 S., € 20,–)