Diesen Schrei hörte die ganze Stadt. Ein Wohnhaus stürzte bei einer Gasexplosion in sich zusammen. Im Haus war der 13-jährige Sven mit seinem Hund Bobby, die Eltern irgendwo anders. Zahlreiche Freiwillige tragen Stein für Stein den Trümmerhaufen ab, in dem, wie Sensoren anzeigen, noch ein Herz schlägt. Aber es ist das Herz des Hundes, der unverletzt geblieben ist. Den entsetzlichen Schrei stößt die Mutter aus, die nach endlos langen Stunden des Wartens vor den Trümmern davon erfährt. Das Ende jeder Hoffnung. Das Gesicht des Vaters bleibt stumm, versteinert. Als beide gemeinsam über die Trümmer steigen, um ihren toten Sohn zu sehen, legt sie den Arm um ihn, und eine Anwohnerin sagt, vielleicht seien Frauen eben doch stärker, wenn man sehe, wie sie ihn noch tröste. Aber vielleicht hält sie einfach nur fest, was ihr geblieben ist, und sie finden beide keinen Trost. Es kann keinen Trost geben in der grenzenlosen Leere, die der Verlust eines geliebten Menschen hinterlässt. Es hat keinen Sinn mehr weiterzuleben. Im unvorstellbaren, untröstlichen Schmerz ist ein Mensch irgendwelchen Gedanken und wohlmeinenden Worten, die ihn trösten sollen, nicht mehr zugänglich. Das Leben steht still, es gibt keine Zukunft mehr.
Dass das Leben in einer solchen Situation nicht einfach weitergeht, ist der innigen Beziehung zum Toten geschuldet, die jetzt nicht einfach endet. Vielleicht ist später irgendwann der richtige Zeitpunkt für Trost gekommen, der ein Weiterleben ermöglicht, vorausgesetzt, dass ein Mensch überhaupt Trost finden will. Er könnte auch darauf verzichten wollen: Ist nicht jetzt erst das Leben in seiner abgründigen Tiefe auszumessen? Wohl aus diesem Grund meinte Rilke, „aller Trost ist trübe“ (Briefe an Gräfin Sizzo, Brief vom 6. Januar1923). Vielleicht nicht wirklich aller Trost, aber derjenige, der auf Ablenkung und Zerstreuung setzt und damit das klare Wasser des Leids trübt, das den Blick in die Tiefe erlaubt. Trost ist trübe, wenn er die Trauer unterdrückt und übertölpelt. Sobald die Trauer aber ihre Zeit hatte, kann es darum gehen, nach Trost zu suchen, und dies nicht nur angesichts des Todes, sondern in vielen Situationen des Lebens.
Schon das Kind, das sich weh getan hat, verlangt nach Trost und fühlt sich getröstet, wenn sein Schmerz ernst genommen und irgendwie „behandelt“ wird. Diesen Trost hält es für so bedeutsam, dass es einen alleinstehenden Menschen besorgt fragen kann: „Und wer tröstet dich?“ Die Erfahrungen, die ein Mensch von klein auf mit dem Getröstetwerden macht, seine Fähigkeit, sich beispielsweise mit Fantasiewelten selbst zu trösten, aber auch sein Schmerz, ungetröstet zu bleiben, fügen sich zu seiner „Trostgeschichte“, wie Irmtraud Tarr in ihrem Buch Trost schreibt. Davon hängt es ab, ob und wie jemand in seinem Leben Trost findet, wenn etwas schmerzt, etwa ein Misserfolg, eine Missachtung durch andere, eine Enttäuschung, ein Liebeskummer oder eine Trennung von einem geliebten Menschen. Menschen scheinen unter allen Wesen diejenigen zu sein, die am meisten des Trostes bedürfen, eine Besonderheit, die mit den Eigenschaften ihrer Seele, ihres Geistes zu tun haben muss.
Vermutlich sind Menschen mehr als andere Wesen imstande, die ontologische Differenz zwischen der Wirklichkeit des Lebens und seinen Möglichkeiten wahrzunehmen: dass nicht alles, was möglich ist, wirklich wird und dass selbst das, was wirklich wird, selten den Möglichkeiten entspricht. Nach Trost verlangt ebenso der schmerzliche Abschied von einer liebgewordenen Wirklichkeit, die ein Mensch zugunsten neuer Möglichkeiten hinter sich lässt. Und der Abschied von vermeintlichen oder tatsächlichen Möglichkeiten, auf die er zugunsten einer bestimmten Wirklichkeit bewusst verzichtet oder weil er den Mut zu erforderlichen Veränderungen nicht aufbringt. Trost braucht aber vor allem die Erfahrung der Tragik, der Unausweichlichkeit, die Menschen bewusst wird, wenn eine Wirklichkeit endgültig besiegelt ist und keine Möglichkeit mehr offensteht. Tragisch ist, dass etwas Ungutes geschieht, das nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Dass etwas wehtut, das nicht wieder gutzumachen ist. Dass allenfalls die Verletzung, nicht jedoch die Verletzlichkeit heilbar ist. Dass eine Enttäuschung zu groß ist, um noch bewältigt werden zu können. Tragisch ist, dass selbst Liebende irgendwann voneinander scheiden müssen und der Tod das Leben begrenzt – mehr noch: dass ein Leben ohne Tod wohl tödlich langweilig wäre.
Was auch immer die Gründe für das Bedürfnis nach Trost im Einzelfall sein mögen – im Grunde sind es wohl immer energetische Gründe. Was geschehen ist, kostet Energie, und Trost bewirkt eine neuerliche Zufuhr von Energie, eine Entdeckung neuer Kraft, wenn Lebenskraft abhandengekommen ist. Wer Trost findet, gewinnt neues Vertrauen in sich und andere, in das Leben und die Welt.
Die Kraft der sinnlichen Erfahrungen
Finden Menschen aber keinen Trost, bleiben sie heillos allein mit ihrer Verletzung, ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung, ihre Trostlosigkeit ist gleichbedeutend mit Kraftlosigkeit. Entscheidend für eine Antwort auf die Frage, was Menschen trösten kann, ist also der neuerliche Zugang zu Energien, den sie sich verschaffen oder der ihnen von anderen verschafft wird. Energien müssen fließen können, um erfahrbar zu werden. Fließen wiederum können sie nur dort, wo Zusammenhänge sind, die auch „Sinn“ genannt werden: Sinn tröstet, auf allen Ebenen, auf denen er zur Verfügung steht und neuen Lebensmut befördert, darin besteht das Wesen des Trostes. Sich alle Möglichkeiten des Sinns vor Augen zu führen ist hilfreich, um für sich selbst herauszufinden: Was kann mich trösten? Und wie kann ich versuchen, andere zu trösten?
Trostreich sind zuallererst sinnliche Erfahrungen, die sehr viel Sinn bereithalten und Energien in Fluss bringen. Sie stellen Zusammenhänge zwischen Selbst und Welt, Selbst und anderen her und bestärken sie mit Lüsten und Genüssen, wenigstens für einen Moment, sofern die Schmerzen nicht sämtliche Sinne betäuben. Schönheit tröstet, in vielfältigen Formen: Trösten kann ein schöner Anblick, eine Farbe, ein bestimmter Duft, eine angenehme Berührung, eine Umarmung, eine gern gehörte Stimme. Aber auch jede Art von Bewegung, Gehen, Rennen, Tanzen, ein Naturerlebnis, eine schöne Umgebung, keine „trostlose Gegend“, ein gemütlicher Raum, ein Wiedersehen mit dem Ort, der mit schönen Erfahrungen verbunden ist, können Trost liefern. Und nicht zuletzt ein gutes Essen, das die Welt gleich wieder anders aussehen lässt: Jeder Mensch kennt seine eigene Trostkost, viele finden bei Suppen und Süßigkeiten neue Zuversicht.
So sehr kann Sinnlichkeit trösten, dass manche sich kopfüber in diese Lüste stürzen, egal in welche. Es können gemeinsame, ohne weiteres auch einsame Lüste sein, denn nicht immer ist dieser Trost an Beziehungen zu anderen gebunden. Starken Trost gewähren jedoch die erotischen Lüste, die so intensiv sein können, dass sie eine bedrückende Situation völlig vergessen machen. Erotik ist die intime Erfahrung der Fülle des Lebens, die weltliche Erlösung von allem Kummer und von allen Problemen der Welt. Daher liegt die Versuchung nahe, sich „mit jemandem zu trösten“, und dies nicht nur, aber auch in der Form von Sex: Sex tröstet. Mag sein, dass dieser Trost zeitlich begrenzt ist, da alle Sinnlichkeit vergänglich ist und Gefühle wankelmütig sind. Aber das Einssein mit einem anderen befreit den Einzelnen für einen Moment aus dem Gefängnis seiner Begrenztheit und Endlichkeit, so dass es ihm möglich wird, im vollen Bewusstsein des Todes das Leben zu lieben.
Menschen fühlen sich getröstet, wenn sie mit ihrem Schicksal nicht allein sind. Das macht den Erfolg von Selbsthilfegruppen aus, und das gilt noch mehr für die Beziehung zu dem einen anderen, der für mich da ist, meine Hand hält und in dessen Fürsorge ich mich aufgeben kann, wenigstens vorübergehend, um neue Kraft zu schöpfen. Tröstlich ist das Wissen, dass da ein Mensch ist, dem ich nicht gleichgültig bin, die Geborgenheit, die bei seinem Anblick fühlbar wird, die Vertrautheit mit ihm, wenn ich ihn ansprechen und berühren darf. Eine Ummantelung durch den anderen hat bei weitem nicht nur am Ende des Lebens Sinn, sondern immer dann, wenn ein Ich zur Sorge für sich selbst nicht in der Lage ist. Was tröstet, ist die Großmut, die in der Aufmerksamkeit und Einfühlung des anderen zum Ausdruck kommt, ein wahres Geschenk. Trösten kann die Sanftmut, die eigene wie die des anderen, die jede Härte und Bitterkeit vergessen macht. Tröstlich ist die Langmut, die Geduld, die ich für mich selbst aufbringe und zu der ein anderer fähig ist, um zuzuhören und in einer bedrückenden Gegenwart einen völlig anderen Zeithorizont zu eröffnen.
Trostreich ist alles, was seelische Energien in Bewegung bringt und einen Menschen davon abbringt, sich in sich selbst zu vergraben. Das Weinen treibt nicht nur die Tränen, sondern auch die Energien der Seele aus dem Inneren hervor, das beklemmend eng geworden ist. Die Tränen sind ein Ausdruck des Schmerzes und zugleich eine Erfahrung des Trostes, sobald sie geweint sind: Wie von Zauberhand wird einem Menschen plötzlich „ganz leicht ums Herz“. Etwas Ähnliches geschieht beim Lachen, das das Innere nach außen kehrt und nicht bloß Ausdruck einer oberflächlichen Fröhlichkeit ist, sondern einer Heiterkeit, die mit der Traurigkeit verschwistert ist.
Alle Kunst und Kultur tröstet damit, Gefühlen Ausdruck zu verleihen, insbesondere jede Art von Musik, in der sehr viel Energie spürbar wird und ein Mensch Sinn erfährt, da er sich in kunstvoll komponierte Zusammenhänge eingebettet fühlen kann. Das kann erst recht die Musik, die er selbst macht, wenn er singt oder ein Instrument spielt. Ein einzelnes Musikstück kann voller Trost sein, etwa das gleichmäßige Dahinplätschern der 24 Préludes von Frédéric Chopin, ein Vorspiel für jede Stunde des Tages, Nachklang der wohltemperierten Präludien von Johann Sebastian Bach: Der volle Wohlklang bringt die Seele zum Erklingen, der Wechsel zwischen Dur und Moll gibt der ganzen Spannweite der Empfindungen eine Sprache. Alle Negativität, die erfahren worden ist, reduziert sich wieder darauf, Element einer Polarität zu sein, die nun mal die Bedingung des Lebens ist. Alles Aufbäumen legt sich, aller Schmerz erscheint aushaltbar unter dem Eindruck dieser Musik, deren genaue Bemessenheit dem aus den Fugen geratenen Leben ein Maß gibt.
Auch das Negative hat seinen Wert
Nicht immer ist klar, warum etwas geschieht, das Geflecht kausaler Zusammenhänge ist kaum je vollständig zu durchschauen. Immer aber lässt sich klären, wozu etwas gut sein kann, denn unabhängig von wirklichen Zusammenhängen können Menschen sich mögliche teleologische Zusammenhänge ausdenken, um daraus Kraft zu schöpfen. Trösten kann die Deutung, dass eine Herausforderung zu bestehen ist, dass das eigene Schicksal anderen hilft, wenn schon nicht dem Selbst, dass es auch „schlimmer hätte kommen können“ und dass grundsätzlich nicht nur positiven, sondern auch negativen Erfahrungen Sinn zukommt: Zusammenhänge der Polarität sind für das Leben wesentlich, da es aus ihnen seine Spannung bezieht. Zwar liegt nichts näher, als gegen alles Negative, gegen Angst, Verrat, Schmerz, Leid, Krankheit, Tod aufzubegehren. Dennoch lässt es sich nicht restlos aus der Welt schaffen, ja mehr noch: All das Positive, das Angenehme, Gute und Lustvolle, das allein übrigbliebe, ergäbe wohl selbst ein unerträgliches Leben.
Im Geistigen Trost zu finden fällt leichter mithilfe von Gedanken, Worten und Sentenzen, die einem Menschen zur rechten Zeit von irgendwoher zufliegen. Sie passen oft so gut zur fraglichen Situation, dass sie zu der Überzeugung führen, es müsse ein Sinn darin liegen, ihnen jetzt zu begegnen. Im Grunde sind sie immer da, aber erst jetzt ist die Aufmerksamkeit wach, und was ein Mensch am meisten braucht, elektrisiert ihn auch am meisten. Tröstende Gedanken sind Büchern zu verdanken: Lesen tröstet. Die Beschreibung einer Wirklichkeit erlaubt die Einordnung der eigenen Erfahrungen, die Erfindung von Möglichkeiten führt vor Augen, dass es noch etwas anderes gibt. Auch Schreiben tröstet, in erster Linie das Aufschreiben all dessen, was geschieht, um sich eine bedrückende Wirklichkeit „von der Seele zu schreiben“ und mit jeder Äußerung das Innere von einer niederdrückenden Last zu befreien. Bei der Suche nach dem angemessenen sprachlichen Ausdruck kommen verborgene Zusammenhänge einer Situation in den Blick. Die Wirklichkeit gerät in Bewegung, und neue Möglichkeiten leuchten auf, zumindest solche der Deutung. Mit der geistigen Arbeit, die das Schreiben abverlangt, macht ein Mensch zum Objekt, was ihn bewegt, und er gewinnt wieder die Weite, die er in der Enge der Verzweiflung zu verlieren drohte. Und Reden tröstet, jedes gesprochene Wort, beinahe egal welchen Inhalts, kann Schmerzen lindern und ein Leiden besänftigen, oft auch das Reden ohne Worte: Es stellt wieder einen Faden der Verbindung zwischen Menschen her und entreißt sie ihrer Einsamkeit und Verlorenheit.
Sinnerfüllend und voller Trost ist darüber hinaus der gefühlte und gedachte transzendente Sinn. Er ergibt sich aus der Annahme eines Zusammenhangs über die Gegenwart, womöglich über die Endlichkeit des Einzelnen hinaus, zunächst auf ganz weltliche Weise: Trösten kann nun doch, dass das Leben weitergeht, in einer alltäglichen und einer tieferen Bedeutung. Das Leben geht weiter im Alltag und seinen Gewohnheiten, in denen ein Mensch sich wohnlich einrichtet. Der Alltag tröstet, wenn das Leben kaum mehr auszuhalten ist, denn durch alle Brüche und Umbrüche hindurch hält er den Zusammenhang der Kontinuität aufrecht und ermöglicht dem Schmerz, sich in der Zeit zu verlieren. Als tröstlich und heilsam wird im Alltag die Arbeit an einer Aufgabe erfahren, die über das eigene Ich hinausreicht und größer ist als das Unheil, das so leidvoll ist: Ich bin für etwas oder jemanden da, das ist jetzt der Sinn meines Lebens.
Eingebettet in das große Ganze
Den größtmöglichen Trost, der erreichbar ist, kann jedoch die Beziehung zu einer Dimension der Transzendenz vermitteln, unabhängig davon, ob sie säkular oder religiös verstanden wird. Menschen können sich im Denken und Deuten zumindest die Möglichkeit einer solchen Dimension offenhalten, um sich in äußerster Einsamkeit in „etwas Größerem“ geborgen zu fühlen, in einem Allumfassenden, das niemanden allein lässt, da es allgegenwärtig ist. Den übergroßen, geradezu metaphysischen Schmerz, wenn Menschen sich ihrer Sterblichkeit bewusstwerden und mit dem Tod konfrontiert sind, kann am ehesten ein metaphysischer Trost auffangen, der nicht unbedingt „jenseits jeder Natur“ sein muss. Trösten kann das Aufgehobensein in der Geschichte der Menschheit und der Welt, denn sie stirbt nicht mit dem Einzelnen, und der Einzelne fällt mit seinem Tod nicht aus ihr heraus. Trösten kann die Einbettung der irdischen in die kosmische Natur, wie dies der Maler Giovanni Segantini kurz vor seinem Tod 1899 im Bild La morte darstellte (Segantini-Museum, St. Moritz): Rechts am Bildrand ist zu erahnen, wie gleich ein toter Mensch aus dem Haus getragen wird, aber der Tod ist nur ein Detail des Lebens in der mächtigen Natur der Berge, die ihrerseits nur ein Detail des Planeten verkörpern. Der kosmische Horizont führt die begrenzte Bedeutung des Irdischen vor Augen und macht eine andere Dimension sichtbar, in deren unendlicher Weite sich alles verliert, was im Leben jetzt schmerzt.
Transzendente Fähigkeiten sind auch Schlaf und Traum, die nicht einfach herbeizuführen, aber bewusst wertzuschätzen sind. Heilsam überkommen sie den Menschen und trösten ihn. Fern von aller Wirklichkeit erlauben sie ihm, neue Energien zu schöpfen. Der Sinn des Traums liegt weniger in einer bestimmten Bedeutung, eher darin, alle denkbaren und undenkbaren, wirklichen und möglichen Zusammenhänge durchzuspielen, manche so faszinierend, dass ein Mensch ihnen fortan gerne folgt, andere so erschreckend, dass er ihnen unbedingt zu entkommen sucht.
Transzendenten Trost vermitteln Rituale, wie Menschen sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen erfunden haben. In mehrfacher Hinsicht überschreiten sie das Leben des Einzelnen: An ihrem Vollzug können viele teilhaben und sich auf diese Weise in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlen. Rituale bieten Formen an und schreiben mit festgefügten Abläufen vor, wie ein Mensch sich verhalten und seine Gefühle zum Ausdruck bringen soll, und gerade dann, wenn er weiß, was zu tun ist, fühlt er sich auch weniger verloren. Für den sprachlichen Ausdruck offerieren Rituale Formeln, beispielsweise Gebetsformeln, die nicht neu erdacht, nur aufgegriffen werden müssen. Wenn diese Formen und Formeln sehr alt sind, stellen sie eine Verbindung zu unvordenklichen Zeiten her, seit denen sie endlos wiederholt werden, und zu kommenden Zeiten, die sie endlos weiter wiederholen werden. Sie transzendieren die Gegenwart und überbrücken damit die ontologische Lücke zwischen einer Wirklichkeit, die nicht mehr verändert werden kann, und Möglichkeiten, die noch nicht wirklich werden können. Zum Problem wird für moderne Menschen jedoch die Vermutung, dass Rituale Religionen entstammen, ihrer Meinung nach also an einen Glauben gebunden sind, auch wenn das nicht wirklich der Fall ist. Zum Problem werden ebenso traditionelle weltliche Rituale, da sie nicht neu sind. Aber es ist das Wesen von Ritu
alen, nicht neu zu sein, ansonsten bleibt nur, sie neu zu erfinden und bei der zweiten oder dritten Wiederholung schon von einer alten Tradition zu sprechen, die dann alsbald der Vergessenheit anheimfällt.
Die Vielzahl von Trostmöglichkeiten zeigt: Im Grunde steht jedem Menschen in jeder Situation in reichem Maße Trost zur Verfügung. Die Frage ist nur, ob er das auch so wahrnimmt und die Anregungen anderer dazu aufnimmt. Wenn nicht, können Trostlosigkeit und Untröstlichkeit die Folge sein. In moderner Zeit scheint diese Erfahrung um sich zu greifen, denn der moderne Traum sieht vor, mithilfe von Erkenntnis, Analyse und Arbeit an Veränderungen sämtliche Situationen zu überwinden, die trostbedürftig sein könnten. Dennoch rückt dieser Zustand nicht näher, und zugleich erschließt sich dem säkularen Menschen der Trost nicht mehr, den eine transzendente Dimension angesichts schmerzlicher Erfahrungen bieten kann. Um Trost im Diesseits selbst zu finden, kommt es zur verstärkten Suche nach Glück. Der moderne Mensch sucht sein Heil im Glück, das ihn aber enttäuschen muss, wenn er zu viel von ihm erhofft. Aus Furcht vor Heilserwartungen bestand Sigmund Freud darauf, „keinen Trost zu bringen“, wie er am Schluss seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) betont, und so hieß die Alternative fortan: Therapie oder Trost. Wenn aber die Therapie an Grenzen stößt, wäre von neuem danach zu fragen, worin denn der Trost besteht.
Wilhelm Schmid, geboren 1953, ist freier Philosoph in Berlin. Nach mehreren Stationen der Lehrtätigkeit war er zuletzt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt tätig. Anfang März erschien sein Buch Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt bei Suhrkamp. Im Internet: lebenskunstphilosophie.de