Der Beobachter

Seine Bücher sind Bestseller. Frans de Waal erforscht Verhalten, Sex, Moral von Schimpansen und Bonobos – und worin wir ihnen ähneln. Ein Porträt.

Der Primatologe und Bestseller-Autor Frans de Waal sitzt an seinem Tisch im Büro in der Universität
Frans de Waal – aufmerksamer Beobachter, der keiner kontroversen Diskussion aus dem Weg geht. © Peyton Fulford

Im Moment stecke ich zu Hause fest. Das ist frustrierend.“ Die Coronapandemie hat die Pläne von Frans de Waal gehörig durcheinandergebracht. Wäre es ein normales Jahr, würde er jetzt durch die Welt reisen und Vorträge halten, unter anderem in Deutschland und den Niederlanden. Alles abgesagt. Er liebe es, sagt er, vor großen Gruppen zu sprechen, den Menschen seine Forschung zu erklären und ihnen Videos über das Verhalten von Tieren zu zeigen.

Doch die letzten Monate hat der Primatologe, der seit 1991 Professor für Psychologie an der Emory University in Georgia ist, in selbstauferlegter Quarantäne zu Hause verbracht. Seine Frau und er seien in einem Alter, in dem man mit dem Virus besonders vorsichtig sein müsse, sagt er. Virtuell hält der 71-Jährige mit seinen Studenten Kontakt. So hat er an diesem Morgen bereits per Zoom mit angehenden Biologen der Universität Utrecht diskutiert, wo de Waal eine zweite Professur innehat.

Auch unser Gespräch findet per Skype statt. Er sitzt in seinem Homeoffice in Stone Mountain bei Atlanta – ein großzügiger Raum mit Bücherwand, großem Aquarium und Kamin, wie man im Video sieht.

„Ich habe eine Botschaft

Kommunikation ist Frans de Waal ein wichtiges Anliegen. Er ist kein Wissenschaftler, der ausschließlich für andere Wissenschaftler publiziert. Seine zahlreichen populärwissenschaftlichen Bücher tragen Titel wie Der Affe in uns oder Primaten und Philosophen. Es sind Bestseller, in zwanzig Sprachen übersetzt. „Die Fachartikel, die ich mit meinen Mitarbeitern schreibe, werden vielleicht von 500 Leuten gelesen – wenn es gut läuft. Es gibt auch Artikel, die schauen sich nur zehn Kollegen an. Wenn man eine Botschaft hat – und ich glaube, ich habe eine Botschaft –, möchte man mehr als zehn Personen erreichen.“

Was kann man aus dem Verhalten und den Eigenschaften von Tieren über uns Menschen und unsere Evolution lernen? Dies ist die zentrale Frage, die der Biologe seit mehr als vier Jahrzehnten stellt. Beim Menschen mögen bestimmte emotionale und kognitive Fähigkeiten weiter entwickelt sein, aber Tiere seien nicht grundsätzlich andere Wesen als wir, argumentiert er. Dies gelte insbesondere für Schimpansen und Bonobos, mit denen wir 98,5 Prozent des Erbgutes teilen. Zu untersuchen, wie sich Tiere in bestimmten Situationen verhalten und warum, führe zu den Wurzeln unserer eigenen Natur zurück. Systematisch studierte de Waal etwa Machtspiele und Sex bei Schimpansen und Bonobos, er ging der Frage nach, ob die Tiere planen, wie sie sich in unfairen Situationen verhalten, und inwieweit sie Ekel, Dankbarkeit und Liebe kennen.

Das Time Magazine setzte Frans de Waal 2007 auf die Liste der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. In seiner Würdigung charakterisierte ihn die Zeitschrift als learned contrarian, einen Gelehrten, der eine der Mehrheit entgegengesetzte Richtung einschlägt. Während sich andere Biologen und Evolutionswissenschaftler auf Wettbewerb konzentriert hätten, also das, was uns auseinandertreibt, habe er sich mit dem befasst, was uns zusammenbringt: wechselseitiges Geben und Nehmen, Empathie, Konfliktlösung.

Gegen den Strom schwimmen

Sieht er sich auch als learned contrarian, will ich von ihm wissen. Er würde nicht unbedingt diesen Begriff verwenden, aber es sei schon zutreffend, dass viele seiner Thesen neu waren und nicht unbedingt dem Zeitgeist entsprachen. So habe er immer der Vorstellung widersprochen, dass beim Menschen von Natur aus Egoismus und Eigennützigkeit dominieren, eine These, die insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren verbreitet war. „Mittlerweile haben sich die Ansichten geändert. Wenn Sie heute Anthropologen fragen, was das bestimmende Merkmal der menschlichen Spezies ist, dann betonen sie Aspekte wie Altruismus und Kooperation. In diesem Sinne fühle ich mich bestätigt. Was ich damals gesagt habe, ist heute gängige Meinung.“

De Waal, dessen weiße Haare durch die dunkel gerandete Brille noch heller erscheinen, spricht mit leichtem niederländischem Akzent. Er wirkt, als gehöre er eher zur ruhigen Sorte, aber auch wie jemand, der sich nicht so leicht von seinem Weg abbringen lässt. Dass er im Laufe seiner Karriere immer wieder gegen den Strom geschwommen ist, habe ihm nichts ausgemacht, sagt er, ganz im Gegenteil: „Es macht mehr Spaß, sich mit Sachen zu befassen, die nicht alle machen. Ich habe auch keine Angst vor Debatten, selbst wenn sie kontrovers verlaufen. Für einen Wissenschaftler ist es sehr wichtig, sich mit Leuten auseinanderzusetzen, die anderer Meinung sind als er selbst.“ Deshalb habe er auch seine Doktoranden immer sehr ermutigt, auf Fachkonferenzen zu gehen. „Manchmal stellt man dort fest, dass man mit einem Forscher, der einen in der Literatur heftig kritisiert, fruchtbar diskutieren kann und sogar viele Ansichten teilt. Man muss sich vor die Wölfe werfen und schauen, was passiert.“

Kindheit auf den Poldern

Der Forscher wuchs in Waalwijk auf, einem kleinen Ort im Süden der Niederlande. Der Vater war Direktor einer kleinen lokalen Bank, erzählt er, und so habe die Familie zu den „besseren Kreisen“ im Ort gehört. „Welcher Schicht man angehörte, war wichtig damals in den 1950er Jahren.“ Die de Waals hatten sechs Jungs und so ging es naturgemäß lebhaft zu. „Es gab eine Menge Kämpfe zwischen uns Kindern.“

Frans war der vierte in der Geschwisterreihe und seine Domäne war die Tierwelt. Seine Brüder interessierten sich nicht dafür. Er aber verbrachte jeden Samstag Stunden in den Poldern, dem Land hinter den Deichen im Rheindelta, und ging in den Wassergräben nach Salamandern, Fröschen, Aalen und Stichlingen auf Jagd. Am Ende des Tages schleppte er seine Beute in einem großen Eimer nach Hause und setzte sie in Glasbehältern und Wasserbecken aus, wo sie unter seiner Pflege anfangs eher schlecht, aber im Laufe der Jahre immer besser gediehen.

Es waren nicht die einzigen Tiere in seinem kleinen Privatzoo. „Meine Eltern waren nicht unbedingt begeistert, dass ich zeitweilig ganze Großfamilien von Mäusen züchtete, aber ich ließ mich nicht davon abhalten.“ Er liebte es, seine Tiere zu beobachten und alles über ihr Verhalten herauszufinden. So lernte er, dass Salamander nichts fressen, was sich nicht bewegt, dass Libellenlarven gewiefte Räuber sind und kleine und große Fische nicht gut auf engem Raum zusammenleben.

Keine vorgefassten Vorstellungen

Genau zu beobachten, was um ihn herum passiert, liege ihm im Blut und zeichne ihn auch heute noch aus, sagt er: „Das beschränkt sich nicht auf Tiere. Wenn ich in ein Restaurant gehe, dann verfolge ich eingehend die Aktivitäten an den anderen Tischen, besonders wenn es dort Meinungsverschiedenheiten gibt oder etwas Romantisches passiert. Und meine Frau weiß, dass sie nichts vor mir verbergen kann. Wenn eine neue Leckerei im Kühlschrank liegt oder ein Buch in meinem Büro umplatziert wird, fällt mir das sofort auf“, sagt er und muss lachen.

Auch bei der Art und Weise, wie er arbeitet, spielt das Beobachten eine bedeutsame Rolle: „Viele Wissenschaftler starten mit einer bestimmten Idee und interessieren sich nur dafür, ob sich für ihre Theorie Belege finden lassen. Ich dagegen lasse mich vornehmlich von dem leiten, was ich sehe. Ich nähere mich Tieren nicht mit vorgefassten Vorstellungen über ihr Verhalten und ihre sozialen Systeme. Ich beobachte sie und das gibt mir einen Eindruck davon, was sich zu untersuchen lohnt. Es sind tatsächlich die Tiere, die bestimmen, an was ich arbeite. Dieser intuitive Ansatz macht die Stärke meiner Arbeit aus, denke ich.“

Schimpansen im Büro

Trotz seiner frühen Leidenschaft für Tiere tat sich de Waal mit der Biologie anfangs schwer. In den ersten Semestern als Student an der Universität in Nijmegen quälte er sich. Weder die Kurse, in denen er stundenlang tote Tiere und Pflanzen sezieren musste, noch der Fokus auf Molekularbiologie, die damals der neueste Trend war, gefielen ihm. „Ich war sehr unglücklich, denn ich wollte mit lebenden Tieren arbeiten und das kam in meinem Studiengang nicht vor.“

Ein Sommerjob rettete ihn. Er brauchte Geld und so bewarb er sich auf eine Stelle im Psychologieinstitut. Es ging, so stellte er zu seiner Überraschung fest, um eine behavioristische Studie mit Affen. Zu den Versuchstieren gehörten zwei Schimpansen, die im obersten Stock eines Bürogebäudes gehalten wurden, „aus heutiger Sicht haarsträubend“. Für de Waal war es eine zukunftsweisende Erfahrung. Die beiden Affen, männliche Jugendliche von etwa fünf Jahren, langweilten sich schnell mit den simplen Lernaufgaben der Studie und wollten lieber mit ihrem studentischen Betreuer balgen. Und das habe er dann auch jeden Tag stundenlang gemacht. De Waals Stimme klingt wärmer, als er davon erzählt. „Es war unglaublich faszinierend. Die Schimpansen waren intelligenter als alle Tiere, mit denen ich bislang zu tun hatte, und verhielten sich beim Raufen sehr ähnlich wie die menschlichen Spielkameraden, die ich kannte.“

Nach dieser Erfahrung fügte sich für ihn auf seinem Berufsweg plötzlich alles zusammen. De Waal wechselte an die Universität von Groningen, wo er Ethologie studieren konnte, ein Feld der Biologie, das das natürliche Verhalten von Tieren erforscht. Danach schloss er ein Promotionsstudium an der Universität von Utrecht an und schrieb eine Doktorarbeit über aggressives Verhalten bei Makaken. Seine positiven Erfahrungen mit den beiden Schimpansen in Nijmegen aber hatte er nicht vergessen – und als sich eine Gelegenheit bot, wieder mit dieser Spezies zu arbeiten, griff er sofort zu.

Begrüßt wie ein Familienmitglied

Der Burgers’ Zoo in Arnheim beherbergte die damals weltweit größte Schimpansenkolonie: 25 Affen in einem 8000 Quadratmeter großen Außengehege. De Waals Doktorvater, Jan van Hooff, dessen Familie der Tierpark gehörte, hatte sie gemeinsam mit seinem Bruder und Zoodirektor Antoon van Hooff aufgebaut. 1975 rekrutierten sie de Waal, um das soziale Leben der Schimpansen zu erforschen. Die Erkenntnisse, die er dort über einen Zeitraum von sechs Jahren gewann, legten das Fundament für seine Karriere und stießen viele Fragen an, die er in den nächsten Jahrzehnten weiter erforschte.

Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, das den damals etwa 30-jährigen Forscher zeigt, wie er ein Schimpansenbaby fürsorglich auf dem Arm hält. Das Baby ist Roosje, das Kind einer Schimpansin aus dem Burgers’ Zoo, die es nicht großziehen konnte, weil sie taub war. So brachte de Waal einer anderen Schimpansin namens Kuif bei, das Baby mit der Flasche zu füttern. Kuif, die selbst Probleme mit dem natürlichen Stillen hatte und darunter sehr litt, zog nicht nur ihre Adoptivtochter Roosje, sondern später auch ihre eigenen Kinder mit der Flasche groß. Von da an habe die vorher eher kratzbürstige Affenfrau ihm gegenüber große Dankbarkeit gezeigt und ihn immer wie ein liebes Familienmitglied begrüßt, wenn er sich ihrem Nachtkäfig näherte, erinnert sich de Waal in seinem aktuellen Buch Mamas letzte Umarmung.

Solche Erfahrungen machten deutlich, wie breit die Palette der Emotionen bei Schimpansen sei, schreibt er dort. Sie reiche von Trauer über Zuneigung bis hin zu Respekt und Dankbarkeit. In seiner Forschung allerdings versuche er, solche persönlichen Eindrücke auszuklammern, und konzentriere sich darauf, wie sie mit ihren Artgenossen umgehen.

Flower-Power und die Politik der Affen

Dies war auch seine Vorgehensweise im Arnheimer Zoo. Es gab ein Büro, das einen guten Blick über die Affeninsel hatte, und von dort aus beobachteten de Waal und sein Team das Geschehen in der Kolonie. Die Forscher filmten das soziale Leben der Affen und werteten die Videos später quantitativ aus. Sie zählten beispielsweise, wie oft sich die Schimpansen gegenseitig bissen, und hielten fest, wer wen wie lange lauste. Zusätzlich führte de Waal ein Journal, in dem er jeden Abend außergewöhnliche Ereignisse und individuelle Besonderheiten einzelner Affen ausführlich beschrieb. Geschätzte zehntausend Stunden brachte er mit der Beobachtung der Schimpansen zu und lernte ihre Persönlichkeiten und Verhaltensweisen so bis in die kleinsten Details kennen.

Die Eindrücke, die er dabei gewann und die er in Mamas letzte Umarmung beschreibt, stellten sich als wegweisend heraus: „Es war die Flower-Power-Zeit der 1970er Jahre und wir [anarchischen jungen Leute] betrachteten sexuelle Eifersucht als antiquiert und jede Form von Ehrgeiz und Machtstreben als verwerflich. Die Schimpansenkolonie, die ich tagein, tagaus beobachtete, war das genaue Gegenteil von der Gesellschaft, die uns vorschwebte. All die ‚reaktionären‘ Neigungen, die wir ablehnten, waren dort in Hülle und Fülle vorhanden: Macht, Ehrgeiz und Eifersucht.“

Auf der anderen Seite konnte er beobachten, wie sich männliche Schimpansen, die sich vorher heftig bekämpft hatten, versöhnten, indem sie sich umarmten und küssten. Er begann, durch die Beobachtung der Menschenaffen die eigene Spezies besser zu verstehen. „Rangkämpfe, Koalitionsbildung, Korruption und politischer Opportunismus – das alles gab es in meinem eigenen Umfeld. Auch die Studentenbewegung hatte ihre Alphamänner, ihre Machtkämpfe, Groupies und Eifersüchteleien.“

Keine direkten Vergleiche

Ähnliche Aha-Erlebnisse verschaffte de Waal bald auch anderen. Er schrieb sein erstes populärwissenschaftliches Buch, Chimpanzee Politics (deutsch: Unsere haarigen Vettern), in dem er Machtpolitik und Friedensstiftung in der Affenkolonie schildert. Es war ein riskanter Schritt. In der Verhaltensforschung stellte man Tiere traditionell als „seelenlose Wesen“ dar und de Waal wich von diesem Standard erheblich ab. Zwar verkniff er sich, direkte Vergleiche zwischen Mensch und Tier zu ziehen (was er in späteren Büchern ausgiebig tat), aber er schrieb den Affen doch politische Taktiken, Emotionen und Absichten zu, die Forscher bislang menschlichen Akteuren vorbehalten hatten.

Sein Doktorvater Jan van Hooff sei ziemlich nervös gewesen, erinnert sich de Waal: „Er fürchtete, dass ich damit meine noch sehr junge Karriere gefährden und auch seinem Ruf schaden könnte.“ Dies trat nicht ein – ganz im Gegenteil. Als das Buch 1982 herauskam, wurde es in der Akademikergemeinde überwiegend positiv aufgenommen. „Manche meiner Biologenkollegen krittelten an Formulierungen herum, aber inhaltlich hießen die meisten das Buch willkommen. Nur die Behavioristen, die Tiere nicht als soziale Wesen, sondern als reine Lernmaschinen verstanden wissen wollten, hatten große Probleme damit. Aber ich war ziemlich selbstbewusst damals, wie es junge Menschen halt so sind, und fand, von Leuten, die überwiegend mit Ratten und Tauben arbeiten, lasse ich mir als Primatologe nichts sagen.“

Beim breiten Publikum, für das es geschrieben war, kam das Buch ebenfalls gut an. Über die Jahre fand es seinen Weg in Schulen und zu Unternehmensberatern und 1994 setzte es Newt Gingrich, der damalige Sprecher des US-Abgeordnetenhauses, sogar auf die Liste empfohlener Bücher für neue Abgeordnete. Das Werk, das heute so etwas wie ein Klassiker ist, machte de Waal weithin bekannt.

Experimentator und Mentor

1981, noch bevor sein Buch in den Läden lag, wagte de Waal einen großen Schritt anderer Art und siedelte in die USA um. Der Psychologieprofessor Robert Goy, der eines der nationalen Zentren der USA für Primatenforschung an der University of Wisconsin leitete, hatte de Waal seit längerem umworben, seinem Team beizutreten. Der scheute sich zunächst, denn die USA und das amerikanische Universitätssystem waren ihm völlig unbekannt. Doch Goy gab nicht auf. Schließlich willigte de Waal ein, auf ein Jahr als Gast zu kommen. Nach zwei Wochen fühlte er sich so wohl, dass er einen längerfristigen Vertrag unterschrieb und seine Frau Catherine bat nachzukommen. Die gebürtige Französin war zunächst in den Niederlanden geblieben, wo sie als Französischlehrerin arbeitete.

In Wisconsin hatte es de Waal wie schon in Utrecht vor allem mit Makaken als Beobachtungstieren zu tun, also mit „gewöhnlichen Affen“. Aber er stellte auch sicher, seine Forschung mit den Menschenaffen nicht aus den Augen zu verlieren. Insbesondere nahm er die Bonobos ins Visier, über die man bis dahin relativ wenig wusste. So brachte er viele Wochen in den Gehegen des Zoos von San Diego zu, um diese Spezies zu beobachten. (In späteren Jahren führte er diese Arbeit in Lola ya Bonobo fort, einem riesigen Schutzgebiet in der Demokratischen Republik Kongo.)

Er studierte ihre matriarchalisch organisierte Gesellschaft, in der weibliche Mitglieder tendenziell einen höheren sozialen Status genießen als männliche, in der Vertrauen und Sanftmut herrschen und Sex ausgiebig und mit den unterschiedlichsten Partnern ausgeübt wird, und prägte den Begriff der Make-love-not-war-Primaten. Das Leben dieser eng mit dem Menschen verwandten Affen werfe auch ein neues Licht auf unsere Natur, argumentierte er: „Sie sind einfach zu friedlich, zu matriarchal und zu einfühlsam, um zur populären Geschichte der menschlichen Evolution zu passen, die von Eroberung, männlicher Dominanz, Jagd und Krieg handelt.“

Breites Interessensgebiet

Zehn Jahre blieb de Waal in Wisconsin „und es war eine sehr gute Zeit“, wie er in der Rückschau unterstreicht. Dennoch: Nur Forscher zu sein war ihm nicht genug. Er wollte auch lehren, wollte eigene Studenten und Doktoranden haben, denn er „hatte das Gefühl, dass ich jungen Leuten etwas Neues zu bieten habe“. So nahm er 1991 eine Professur für Psychologie an der Emory University in Atlanta an. Er arbeitet am Yerkes National Primate Research Center, einem riesigen Primatenforschungszentrum, und leitete ein Institut, das Living Links Center, das sich speziell mit der Evolution von Menschen und Primaten befasst.

Sarah Brosnan, heute Professorin für Psychologie und Philosophie an der Georgia State University in Atlanta, die von 1998 bis 2004 bei ihm promoviert hat, erinnert sich gerne an die regelmäßigen Dinner in de Waals Labor, bei denen bis spät in die Nacht gegessen und geredet wurde. Die Diskussionen drehten sich nicht nur um Wissenschaft, sagt sie: „Frans interessiert sich für viele Themen: Politik, Gesellschaft, Kunst. Wenn man mit ihm zusammen ist, kann man sicher sein, dass die Gespräche spannend und weitreichend sind.“

In Atlanta richtete de Waal seine Forschung neu aus und konzentrierte sich nun mehr auf Experimente als zuvor. Zu diesem Zweck baute er eine Feldstation mit 20 Schimpansen auf. Dabei handelte es sich nicht um domestizierte Affen, wie de Waal betont, und sich ihnen im Gehege zu nähern, war gefährlich, da Schimpansen deutlich stärker als Menschen und unberechenbar sind. Die Wissenschaftler riefen die Primaten beim Namen und luden sie ein, in ein Gebäude mit gittergeschützten Räumen zu kommen, wo sie ganz unterschiedliche Tests absolvierten.

In einer Studie zur Gesichtserkennung beispielsweise sahen die Affen auf einem Computermonitor das Foto eines ihnen unbekannten Artgenossen und sollten per Joystick aus einer Reihe von Schimpansenbildern dasjenige auswählen, das mit dem Original übereinstimmte – was ihnen ohne Probleme gelang. In einem zweiten Durchgang zeigten die Forscher, dass Schimpansen auch leicht die Gesichter der Mitglieder ihrer Gruppe von „Fremden“ unterscheiden können und dass sie ihre Vertrauten vor allem an den Augen erkennen.

Genderunterschiede bei Affen

Und natürlich schrieb de Waal weiter populäre Bücher. Dabei wagte er sich auch in Terrains vor, die für einen Primatologen eher ungewöhnlich sind: Kultur, Gesellschaftsordnung, Moralphilosophie. Es habe ihn manchmal selbst überrascht, sagt er, zu welch weitreichenden und abstrakten Fragen ihn so etwas Konkretes wie das Verhalten von Affen geführt habe. In seinem Buch Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote beispielsweise argumentiert er, dass Moral und ethisches Verhalten in der Natur des Menschen liegen und nicht etwa erst durch die Religionen entstanden sind. Diese Überlegungen, so erzählt er, hätten ihren Anfang in einfachen Experimenten genommen, bei denen Schimpansen und Bonobos, die einen verzweifelten Artgenossen sahen, diesen zu trösten und zu beruhigen versuchten.

De Waals Bereitschaft, nicht nur über die reinen Ergebnisse seiner Forschung zu sprechen, sondern diese als Ausgangspunkt einer weitreichenden Betrachtung zu machen, sei es, was seine Bücher beim Laienpublikum so erfolgreich mache, meint Psychologieprofessorin Sarah Brosnan. Aber auch in der wissenschaftlichen Community sei er sehr angesehen, betont sie: „Seine wissenschaftliche Arbeit ist rigoros und für seine Fachartikel hat er Auszeichnungen gewonnen.“ Manche Kollegen kritisierten, dass de Waal in seinen Büchern Tiere zu sehr vermenschliche und zu populärwissenschaftlich schreibe.

Zudem stimme nicht jeder seiner Argumentation zu, dass Mensch und Tier auf einem Kontinuum liegen und insbesondere Menschenaffen Vorstufen menschlicher Fähigkeiten haben: „Er nimmt in dieser Hinsicht eine ziemlich entschiedene Position ein. Aber selbst jene, die das anders sehen und überzeugt sind, dass Menschen sich deutlich von Tieren unterscheiden, zollen ihm eine Menge Anerkennung dafür, dass er die Primatologie bekannter gemacht und sich auch sehr engagiert hat, über die Welt der Schimpansen und Bonobos hinauszublicken.“

Kontroverse Diskussionen voraus

Letztes Jahr ist de Waal offiziell in den Ruhestand gegangen. Er hat seine Labore im Living Links Center geschlossen und nimmt keine Studenten mehr an. Aber in anderer Hinsicht will er weitermachen. Er verrät, dass er momentan an einem Buch über die Genderunterschiede schreibt, „ein Thema, auf das die Leute unglaublich fixiert sind“, wie er findet. Sowohl konservative Kreise, die betonen, wie unterschiedlich Männer und Frauen sind, als auch Vertreter der Genderstudies, die Unterschiede eher minimal sehen, griffen oft auf Tierbeispiele zurück, um ihren Standpunkt zu illustrieren.

Er wolle darlegen, wie es in der Welt der Primaten tatsächlich aussieht. „Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind schon gewaltig – aber nicht so, wie die Leute glauben. Viele haben eine sehr simplifizierte Vorstellung, etwa dass es in Affengruppen immer einen diktatorischen Mann gibt, der alle anderen Mitglieder dominiert. In Wahrheit ist es oft eine Frau, die einem Alphamann zu seiner Position verhilft. Und bei Spezies wie den Bonobos, die matriarchal organisiert sind, läuft es wieder ganz anders ab.“ Andere Aspekte des Lebens wiederum seien bei allen Primaten gleich, beispielsweise dass Männer tendenziell gewalttätiger sind als Frauen und die Frauen sich in den ersten Jahren um den Nachwuchs kümmern.

De Waal ist sich bewusst, dass dieses Thema die Emotionen hochschwappen lässt. Er erwartet eine kontroverse Diskussion, aber das hält ihn nicht ab. So wie ihn eben noch nie etwas davon abgehalten hat, seine Erkenntnisse ohne Umschweife dazulegen, auch wenn sie herrschenden Denkweisen widersprechen.

SERIE: DAS PSYCHOLOGEN-PORTRÄT

Bisher erschienen:

Martin Seligman – Von der Hilflosigkeit zum Glück. Heft 10/2019

Jan Born – Der Grenzgänger. Heft 1/2020

Ursula Staudinger – Die Gründerin. Heft 5/2020

Kate Sweeny – Die Sorgenbändigerin. Heft 8/2020

So war Mama

Mama, die titelgebende Figur von Frans de Waals jüngstem Buch, war eine Schimpansin aus dem Burgers’ Zoo im niederländischen Arnheim. Mamas letzte Umarmung, von der im Buchtitel die Rede ist, galt de Waals Doktorvater Jan van Hoof, der eine sehr enge Beziehung zu der Schimpansin hatte und sich nun von dem im Sterben liegenden Tier verabschiedete. Das rührende YouTube-Video der letzten Begegnung haben mehr als elf Millionen Menschen gesehen (youtu.be/INa-oOAexno).

„Auch ich hatte eine enge Beziehung zu Mama“, schreibt de Waal. Wenige Monate vor ihrem Tod hat er die Schimpansin zum letzten Mal gesehen. „Als sie mein Gesicht unter den Besuchern entdeckte, eilte sie trotz ihrer schmerzhaften Arthritis herbei, um mich zu begrüßen. Rufend und grunzend näherte sie sich dem Wassergraben, der uns trennte, und streckte mir einladend die Hand entgegen.“

Mama war „die Matriarchin der Kolonie“, schreibt de Waal. „Anfangs dominierte sie sogar drei erwachsene Schimpansenmänner.“ Auch als Männer die Spitzenposition erobert hatten, blieb sie eine zentrale Figur – und „begnadete Vermittlerin“, etwa nach einem Machostreit. „Sie setzte sich neben einen der beiden Streithähne und begann, sein Fell zu pflegen. Nach einer Weile näherte sie sich dem anderen, den Rivalen im Schlepptau. […] Nachdem sie eine Zeitlang zwischen den Männern gesessen hatte, stand Mama einfach auf und ließ die beiden allein, damit sie gegenseitig Fellpflege betreiben konnten.“

Frans de Waal: Mamas letzte Umarmung. Die Emotionen der Tiere und was sie über uns aussagen. Klett-Cotta, Stuttgart 2020

Zwei Vorbilder

Während seines Studiums der Ethologie in Groningen begann sich Frans de Waal mit den Arbeiten von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen zu befassen. Die beiden großen Biologen, die (gemeinsam mit Karl von Frisch) 1973 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielten, beeinflussen ihn bis heute, wie er sagt: „Lorenz war eine großartige Inspiration, weil er Tiere so lebhaft beschrieb, dass man mitfühlen konnte, was er beobachtete. Und Tinbergen führte eine stärker wissenschaftlich orientierte Denkweise in die Ethologie ein. Er frage für jedes Verhalten, warum es sich im Laufe der Evolution entwickelt hat und führte dann Experimente durch, um seine These zu überprüfen.“ In gewisser Weise, so de Waal, kombiniere er in seinen Arbeiten die Herangehensweisen beider: das intuitive Beobachten, das Lorenz‘ Stärke war, und Tinbergens sorgfältiges Experimentieren, das er selbst insbesondere in der zweiten Hälfte seiner Karriere forciert hat.

5 BÜCHER VON FRANS DE WAAL

Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind. Dtv 2009

Bonobos. Die zärtlichen Menschenaffen. Birkhäuser 2013 (Reprint der Erstausgabe von 1998)

Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote. Moral ist älter als Religion. Klett-Cotta 2019 (4. Auflage)

Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können. Hanser 2011

Mamas letzte Umarmung. Die Emotionen der Tiere und was sie über uns aussagen. Klett-Cotta 2020

Artikel zum Thema
Der Primatologe Frans de Waal erklärt im Interview, was wir von Schimpansen und Bonobos über Gender und Sex lernen können.
Leben
Mit anderen zu empfinden stärkt das soziale Miteinander – und die eigene seelische Gesundheit.
Leben
Ein Forscher stellt Hypothesen vor, wie sich im Verlauf der Evolution Rhythmus und Tanzen entwickelt haben könnten.
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2020: ​Toxische Beziehung
Anzeige
Psychologie Heute Compact 78: Was gegen Angst hilft