Wenn man einen Arzt, eine Ärztin wegen Schmerzen aufsucht, will man für voll genommen werden. Das ist jedoch bei weiblichen Patienten leider nicht immer der Fall. Der Schmerz von Frauen wird von Ärzten, ja selbst von Ärztinnen und vom medizinischen Personal häufig unterschätzt. Und das hat ganz konkrete Folgen für die Behandlung: Frauen warten länger in der Notaufnahme, und in der Praxis wird ihnen eher eine psychologische als eine Behandlung mit Schmerzmitteln empfohlen. Schuld daran sind Geschlechterstereotype wie diese:
1 Auskunftsfreude
In einer Studie präsentierte ein Team um den amerikanischen Psychologen Tor Wager den weiblichen und männlichen Teilnehmenden kurze Videoclips von echten Patienten und Patientinnen mit Schulterschmerzen, die sich peinvollen Untersuchungen unterzogen. Die Beurteilenden sahen sich eine Auswahl dieser Videos an und schätzten den Schmerz der gezeigten Person auf einer Skala ein.
Verglichen mit der eigenen Einschätzung der Patientinnen und Patienten unterschätzten die Probanden und auch die Probandinnen durchweg die Schmerzen von Frauen und überschätzten die von Männern. Selbst wenn die Frauen und Männer in ihrem Gesichtsausdruck genau das gleiche Ausmaß an Qualen offenbarten und von gleich heftigen Torturen berichteten, wurde den Frauen ein geringeres Maß an Schmerzen zugeschrieben.
Ein zusätzliches Experiment zeigte: Geschlechterklischees waren schuld daran. Denn wer glaubte, dass Frauen eher als Männer bereit seien, von ihren Schmerzen zu berichten, unterschätzte ihre reale Qual besonders stark. Für je auskunftsfreudiger bei dem Thema Schmerz die Versuchspersonen Frauen hielten, desto weniger Schmerz nahmen sie bei den weiblichen Patienten wahr.
Außerdem betrachteten diese Personen eher bei Frauen als bei Männern eine Psychotherapie als eine wirksamere Behandlung als Schmerzmedikamente. Dem Forschungsteam zufolge steckt eine ganz bestimmte Logik hinter den Einschätzungen der an der Studie Teilnehmenden. Nach dem Motto: Wenn Frauen generell mehr von ihren Schmerzen berichten als Männer, gilt es, diese „Verzerrung“ auszugleichen, indem man von dem berichteten Schmerz ein Sümmchen abzieht.
2 Schmerztoleranz
Zudem schätzten genau diejenigen Probandinnen und Probanden den Schmerz von Männern höher ein, die glaubten, der typische Mann ertrage Schmerzen besser als die typische Frau. In diesem Fall geht es um die jeweilige Schmerztoleranz, die man beiden Geschlechtern zumisst. Zwar fanden sich in Studien tatsächlich Hinweise auf eine etwas höhere Schmerztoleranz von Männern. Das hat aber sicher auch mit der Sozialisation zu tun.
Von Jungen und Männern wird erwartet, Schmerzen stoisch zu ertragen: „Ein Junge weint nicht.“ Sieht man dann einen Mann mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht, denkt man kompensatorisch: Wenn man es ihm sogar schon ansieht, dann muss der Arme ja vor Schmerzen sterben! Frauen hingegen kämpfen von Kindheit an mit der Karikatur der „Heulsuse“.
Diese Geschlechterklischees spiegelten sich in Untersuchungen. In einer Studie mit fast 400 Psychologiestudierenden waren sich Männer und Frauen einig: Das „schwache Geschlecht“ hält Schmerzen im Schnitt weniger aus als das „starke“. Diese verbreitete Einschätzung könnte Forschern zufolge erklären, warum auch in der Medizin die Schmerzintensität bei Frauen oft unterschätzt wird. Selbst wenn weibliche Patienten den gleichen Schmerz zum Ausdruck bringen wie männliche, gehen die Behandelnden offenbar davon aus, dass die Frauen „objektiv“ weniger Schmerzen haben.
3 Schmerzschwelle
Beim Thema Schmerz ist es nicht nur eine Frage, wie viel Schmerz wir aushalten können, wann für uns das Maß voll ist. Es geht auch darum, ab wann wir überhaupt einen Schmerz in unserem Körper wahrnehmen. Diese Schmerzschwelle ist individuell unterschiedlich hoch. Liegt sie niedrig, werden auch schon Wahrnehmungen wie ein leichter Druck auf den eigenen Fingernagel als Schmerz empfunden.
Hier wirkt wieder das Klischee, dass Frauen das sensible Geschlecht sind. In der Praxis führt dies zu einer verzerrten Vorstellung, wie die erwähnte Studie mit den 400 Psychologiestudierenden ebenfalls zeigte: In den Augen von Teilnehmern beider Geschlechter halten Frauen nicht nur weniger Schmerzen aus, sondern sie sind auch empfindlicher. Dieses Sterotyp der weiblichen „Überempfindlichkeit“ trägt weiter dazu bei, dass Schmerzen bei Frauen nicht ernst genug genommen werden.
4 Glaubwürdigkeit
Sind Frauen in Sachen Schmerzen weniger glaubwürdig als Männer? Das meinen selbst gestandene Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinstudierende. In einer Studie bekamen sie Fallgeschichten zu lesen und Videos zu sehen. Die Clips zeigten Patienten und Patientinnen mit chronischen Schmerzen, die peinigende Übungen durchführten. Die medizinischen Betrachterinnen und Betrachter beurteilten die Schmerzen der weiblichen Patienten als geringer als die der männlichen.
Sie empfahlen Männern eher Schmerzmittel und Frauen eher eine psychologische Behandlung – und das obwohl wieder der Gesichtsausdruck der Frauen und Männer die gleiche Schmerzintensität ausdrückte. Die Medizinstudierenden hielten es bei den Patientinnen für wahrscheinlicher, dass sie die Schmerzen übertrieben. Je stärker sie dies glaubten, desto geringer schätzten sie den realen Schmerz der Frauen ein.
Einer anderen Untersuchung zufolge gelten Frauen als emotionaler. Von Frauen werde erwartet, dass sie aufgrund von Emotionen irrational und dramatisch reagierten. Und das mache sie unglaubwürdiger. Emotionale Äußerungen von Frauen werden eher als Dramatisierungen und Übertreibungen charakterisiert als die von Männern. Das zeigt sich auch in anderen Bereichen: Zum Beispiel werden Frauen, die als Zeugen vor Gericht auftreten, häufiger als weniger glaubwürdig und vertrauenswürdig eingeschätzt als Männer.
Literatur
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