Erregte Ruheappelle

Psychologie nach Zahlen: ​6 Einwände gegen das Dramatisieren von Schlafmangel ​

Die Illustration zeigt einen Mann im Pyjama, der schlaflos auf einem blauen Schaf um sein Bett reitet und dabei eine Trompete bläst, zusammen mit zwei weiteren Schafen
Wir übertreiben es manchmal mit der Aufforderung, genug zu schlafen. © Till Hafenbrak

Zu wenig Schlaf ist schlecht für uns. Das wissen wir alle. Der Schlafforscher Matthew Walker, Verfasser des Bestsellers Why We Sleep, warnte sogar: Je kürzer Ihr Schlaf, desto kürzer Ihr Leben. Doch einige Fachleute sind inzwischen der Auffassung, dass wir es mit der Sorge, wir fänden nicht genug Schlaf, übertreiben. Paradoxerweise könnten dramatische Appelle die Schlafprobleme sogar verschlimmern. Einige Hinweise sprechen dafür, dass „zu wenig“ Schlaf nicht immer so verheerend ist, wie das mitunter klingt.

1 Morgenmüde Eulen

Sie wissen sicher um die beiden Chronotypen Lerchen (früh zu Bett und früh aufstehen) und Eulen (spät ins Bett und spät aufstehen). Kinder sind zu Beginn ihres Lebens meist Lerchen, in der Adoleszenz werden viele zu Eulen. Ein spätes Aufwachen ist Teenagern an den Wochenenden möglich, nicht aber wäh­rend der Schulwoche. So kamen mehrere Studien zu dem Ergebnis, dass ein späterer Schulbeginn die Leistungen verbessern könne. Daher befürworten viele Expertinnen und Experten veränderte morgendliche Anfangszeiten. Einiges deutet jedoch darauf hin, dass nicht in erster Linie Schlafmangel das Problem ist: Eine in Scientific Reports veröffentlichte niederländische Studie mit Schülern weiterführender Schulen ergab, dass Eulen zwar bei Prüfungen schlechter waren. Doch das stand äußerst selten in direktem Zusammenhang zur Schlafdauer, sondern lag daran, dass schulische Prüfungen oft morgens stattfinden – wenn die Eulen noch nicht auf der Höhe ihrer kognitiven Leistung sind. Wenn sie ihre Prüfungen am Nachmittag ablegen konnten, erreichten sie ähnliche Noten wie die Lerchen. Das galt besonders für die naturwissenschaftlichen Fächer. Teenager dazu zu bewegen, früher zu Bett zu gehen, damit sie länger schlafen, würde ihre Schulleistungen also keineswegs zwingend in dem Maß verbessern, wie behauptet wurde.

2 Gestörter Schlaf, gestörte Psyche?

Angstzustände, Zwänge, Aufmerk­samkeitsstörungen, Schizophrenie: Eine ganze Reihe psychischer Probleme wird mit Schlafproblemen in Verbindung gebracht. Ruft ein Schlafmangel diese Symptome hervor? Inzwischen weiß man, dass die Beziehung wechselseitig ist: Psychische Krankheiten und Schlafstörungen verstärken einander. Es deutet viel darauf hin, dass Stress während der Kindheit zu späterer Schlaflosigkeit führen kann; Kinder, die in Familien mit hohem Konfliktniveau aufwuchsen, hatten laut einer Studie als Erwachsene eher Schlafstörungen.

3 Munter durch Schlafentzug

Bei einer Depression sind Symptome und Schlaf kurioserweise umgekehrt verbunden: Mehrere Studien, die ersten vor knapp 50 Jahren, konnten nachweisen, dass Schlafentzug eine effektive Therapie gegen Depression ist. Schlafentzug führt bei Gesunden in der Regel zu einer Verschlechterung des Befindens, aber bei Depressiven kann eine schlaflose Nacht (zumindest vorübergehend) das Gegenteil bewirken. Die Behandlung wirkt schnell und sie schlägt, wie etwa eine Studie in Dänemark ergab, bei nahezu allen Patienten an. Warum sie wirkt, ist bislang nicht ganz klar, möglicherweise wird eine träge biologische Uhr neu gestellt.

4 Kein Zaubermittel fürs Gedächtnis

Die Beweise dafür, wie wichtig Schlaf für das Gedächtnis ist, sind überwältigend. Unlängst aber hat eine Studie die Überzeugung ins Wanken gebracht, dass Schlaf das Erinnerungsvermögen zwingend verbessert. Ausgehend von den bisherigen Ergebnissen, hatten die Forschenden erwartet, dass Augenzeugen, die vor einer Befragung schlafen konnten, am folgenden Tag einen Verdächtigen eindeutiger würden identifizieren können. Doch das war nicht der Fall. 2000 Personen sahen ein kurzes Video von einem Mann, der in einem Büro einen Laptop stahl, zwölf Stunden später sollten sie ihn bei einer Gegenüberstellung unter einer Auswahl von Gesichtern identifizieren. Jene Frauen und Männer, die in den zwölf Stunden geschlafen hatte, erkannten den Betreffenden nicht häufiger als die, die wach geblieben waren.

5 Dick, weil müde. Oder umgekehrt?

Sie haben ohne Zweifel gehört, dass Schlafmangel nicht allein Ihrer psychischen, sondern auch Ihrer physischen Gesundheit schadet. So neigen Frauen, die zu wenig schlafen, häufiger zu Übergewicht, Diabetes und Herz­erkrankungen. Doch die Gründe hierfür sind offenbar indirekt: Frauen mit Schlafstörungen ernähren sich häufig schlechter, sie wählen kalorienreiche Lebensmittel, wie eine amerikanische Studie zeigte. Diese Ernährung könnte zulasten der Schlafqualität gehen, meint der Hauptautor Faris Zuraikat von der Columbia University. „Mehr essen kann zu gastrointestinalen Beschwerden führen, die das Einschlafen oder Durchschlafen erschweren.”

6 Eingebildete Schlaflose

Es gibt nicht wenige Menschen, die diagnostisch gesehen an Insomnie leiden, das aber gar nicht als belastend oder beängstigend erleben. Sie leiden auch nicht stärker unter Tagesmüdigkeit als Menschen, die gut schlafen. Besonders interessant ist, dass sich eine beträchtliche Zunahme von Hypertonie (Bluthochdruck) bei Menschen feststellen ließ, die glaubten, unter Insomnie zu leiden, nicht aber bei den „klaglos Schlafgestörten“. Eine solche sich selbst zugeschriebene „Insomnie-Identität“ sagte Beeinträchtigungen im Tagesablauf sogar besser voraus als schlechter Schlaf. Eine andere Studie ergab, dass schon die Sorge, zu wenig zu schlafen, zu längerer Schlaflosigkeit führen kann. Es wäre daher plausibel, dass Berichte über die Gefahren von Schlafmangel einige der Probleme verursachen, die sie beschreiben. ■

© British Psychological Society. Reproduced with the permission of the Licensor through PLSclear. Übersetzung: Ebba D. Drolshagen

Literatur

Giulia Zerbini u.a.: Lower school performance in late chronotypes: underlying factors and mechanisms. Scientific Reports, 7/4385, 2017

Klaus Martiny u.a.: The day-to-day acute effect of wake therapy in patients with major depression using the HAM-D6 as primary outcome measure: results from a randomised controlled trial. Plos One, 8/6, 2013, e67264

D. P. Morgan u.a.: The impact of sleep on eyewitness identifications. DOI: 10.1098/rsos.170501

Kenneth L. Lichstein: Insomnia identity. Behaviour Research and Therapy, 97, 2017, 230–241

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2021: Raus aus alten Mustern
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