Das Trauma heilen

Psychische Verletzungen schädigen die Seele und das Immunsystem. Deutsche Wissen­schaftler konnten nun zeigen: Psychotherapie lindert nicht nur die seelischen Schmerzen, sie repariert auch geschädigte Zellen

Seine Erinnerungen kommen zögerlich, wie von weit her. Aber er kann sie inzwischen aussprechen. Das ging viele Jahre lang nicht. „Sie haben mich begraben, bis zum Hals. Die ganze Nacht war ich so eingegraben. Ich dachte, ich muss sterben.“ Sana-Bairo Sabally aus Gambia hat unvorstellbare Grausamkeiten erlebt. Jetzt sitzt er in einem schlichten Raum der Traumaambulanz an der Universität Konstanz. Er hat sich für das Gespräch fein gemacht, trägt sein festliches gold-braun gemustertes afrikanisches Gewand. Aus Gambia konnte er irgendwann fliehen. Doch noch lange Zeit nach der Flucht kamen immer wieder die Bilder hoch. Ließen ihn innerlich erstarren, brachten ihn um den Schlaf. Neun Jahre hatte er in Afrika im Gefängnis verbracht. Komplett isoliert. Seine Peiniger haben ihn in dieser Zeit immer wieder gefoltert. „Ich war mit den Füßen am Dach aufgehängt. Wie Vieh. Dann haben sie unter mir Feuer gemacht.“

Solche Erlebnisse verwunden die Seele. Und sie können auch körperlich krank machen. Fachleute schätzen: Mehr als jeder dritte Flüchtling, der nach Deutschland kommt, leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). „Wir wissen, dass Menschen, die in diesem Zustand lange leben und nicht therapiert werden, ein höheres Risiko für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems haben“, sagt die Psychologieprofessorin Iris-Tatjana Kolassa von der Universität Ulm, „und auch für Diabetes, für Autoimmunerkrankungen und für Krebs.“

Wie genau die furchtbaren Erlebnisse den Körper schädigen, konnte am Menschen bisher nicht nachgewiesen werden. Nun gelang es Wissenschaftlern der Universitäten Ulm und Konstanz, die Auswirkungen eines Traumas bis in die kleinsten Zellen zu verfolgen. Sie wagten eine außergewöhnliche Zusammenarbeit. Psychologen, Molekularbiologen und Mediziner (unter ihnen der renommierte DNA-Experte Alexander Bürkle) forschten gemeinsam. Und erhielten spektakuläre Ergebnisse: Ihnen gelang der Nachweis, dass traumatische Erlebnisse in den Zellen Schäden an der DNA, also am Erbgut auslösen. Zugleich konnten sie zeigen, dass sich durch eine Psychotherapie nicht nur die seelischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung lindern lassen. Auch die Zahl der DNA-Schäden in den Zellen wurde deutlich kleiner. Den positiven Effekt der Psychotherapie auf den Körper konnten die Wissenschaftler damit konkret belegen. Zwar bisher nur an einer kleinen Anzahl von Studienteilnehmern, aber dennoch in einer methodisch einwandfreien randomisierten Doppelblindstudie. Die Ergebnisse dieser Forschungskooperation wurden in der Fachzeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics (83, 2014, 289–297) veröffentlicht.

Die Idee zum Projekt hatte Iris-Tatjana Kolassa vor ein paar Jahren. Die Psychologin forschte damals zum Thema Stress an der Universität Konstanz. Ihre Hypothese: Psychische Verletzungen schädigen das Immunsystem. Denn Stress wirkt bis tief in die Immunzellen hinein, bis in die Erbinformation der Zelle. Wenn Stress an der DNA, dem Bauplan des Körpers nagt, dann entstehen Brüche. Der Informationsfluss ist gestört. Die Zelle kann nicht mehr richtig arbeiten. Mit Tausenden DNA-Schäden wird der Körper täglich konfrontiert, wie Alexander Bürkle erklärt: „Es gibt Reparaturvorgänge, die jeden Tag vollautomatisch ablaufen. Wenn sich aber die Schäden anhäufen, kann das für die Zellen und auch für die entsprechenden Organe sehr negative Konsequenzen haben.“

Um Menschen zu finden, die schwere Traumata erlebt hatten, fragten die Wissenschaftler in der Konstanzer Ambulanz nach Flüchtlingen, die bereit waren, an der Studie teilzunehmen. Sana-Bairo Sabally aus Gambia war einer von ihnen. Sein Blut wurde wie das der anderen Teilnehmer zweimal untersucht. Einmal vor der Therapie. Und Monate später dann, nach den Gesprächen mit der Psychologin. Die Forscher suchten nach DNA-Schäden in ganz speziellen Zellen. Nämlich solchen, die für das Immunsystem wichtig sind. Das sind die sogenannten mononuklearen Zellen des peripheren Blutes. Diese Zellen gehören zu den Leukozyten, den weißen Blutkörperchen des Immunsystems. An ihnen lässt sich besonders gut die Reaktion des Körpers auf Stress beobachten.

Für die Studie verglichen die Forscher das Blut von mehreren Dutzend Menschen, die sie in drei Gruppen teilten. Eine Gruppe bestand aus 34 Flüchtlingen mit schwerer posttraumatischer Belastungsstörung. Die zweite Gruppe umfasste elf Flüchtlinge, die zwar ebenfalls traumatische Erfahrungen gemacht hatten, aber äußerlich keine PTBS-Symptome zeigten. Die dritte Gruppe, die Kontrollgruppe, hatte keine schweren Traumata erlebt. Es waren 20 Menschen aus Afrika, Afghanistan, dem Balkan oder dem Mittleren Osten. Damit hatte diese Gruppe eine vergleichbare ethnische Zusammensetzung wie die beiden anderen.

Die Studie zeigte, dass die traumatisierten Teilnehmer – ob mit PTBS-Symptomen oder ohne – in ihren Körperzellen mehr und stärkere DNA-Schäden hatten als die Personen aus der Kontrollgruppe. Zum ersten Mal wurde der Zusammenhang von Stress und DNA-Zerstörung damit direkt am Menschen nachgewiesen. Soweit war die Hypothese der Wissenschaftler bestätigt worden.

Daraufhin untersuchten sie, wie es denn nach der Therapie aussieht. An diese Frage hatte sich noch niemand herangewagt. Schlägt sich die Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung auch auf molekularer Ebene nieder? Wirkt sich Psychotherapie bis in die Körperzellen aus? Dann müssten sich die DNA-Schäden in den Immunzellen ja deutlich verringern lassen. Dafür untersuchten sie die Zellen von 38 schwer traumatisierten Menschen, die alle eine stark geschädigte DNA zeigten. Die Hälfte von ihnen bekam eine Psychotherapie, die andere Hälfte musste warten. Nach zwölf Stunden Therapie, vier Monate später, wurden die Zellen verglichen.

Die Blutproben gingen wieder ins Labor – zu Professor Alexander Bürkle und seinem Team. Dort haben die Mikrobiologen ein Modell weiterentwickelt, um DNA-Strangbrüche in den Zellen sichtbar zu machen und das Verfahren zu automatisieren. Er habe zunächst keine allzu großen Erwartungen an die Ergebnisse gehabt, sagt Professor Bürkle, da die untersuchte Gruppe nicht besonders groß war. „Aber eines Morgens rief mich der Statistiker an und teilte mir mit, dass auffällige, sehr starke Effekte zu sehen seien. Und er wollte sich erst einmal versichern, dass bei uns alles mit rechten Dingen zugegangen ist und keine Verwechslungen passiert sind.“

Nichts war verwechselt worden. Die Daten stimmten. Offenbar wurden durch die therapeutischen Gespräche die Reparaturmechanismen in den Zellen gestärkt. Die Schäden an der DNA gingen durch die Psychotherapie deutlich zurück. Die richtige Funktion der Immunzellen konnte wiederhergestellt werden. Ein klares Ergebnis.

Bereits nach vier Monaten Therapie waren die DNA-Schäden gering

„Wir waren überrascht von dem starken Effekt, der sichtbar wurde“, erzählt der Mediziner Bürkle, „dass nämlich nach einer erfolgreichen Psychotherapie auch die DNA-Schäden verschwunden waren.“ Und obwohl nur mehrere Dutzend Patienten untersucht wurden und nicht Hunderte, wie sonst etwa bei großen klinischen Medikamentenstudien, war der Effekt so eindeutig, dass er die Biologen und Mediziner überzeugte.

Solche deutlichen Ergebnisse hatten selbst die Psychologen nicht erwartet. Schon nach vier Monaten Therapie waren die DNA-Schäden in den Zellen gering, lagen fast auf dem niedrigen Niveau der gesunden Vergleichsgruppe. Auch nach einem Jahr, als noch einmal getestet wurde, blieben die Schäden auf diesem Level, hatten sich sogar noch mehr reduziert. Einzige Schwäche der Studie: Nach einem Jahr konnte man die Ergebnisse nicht mehr mit den Menschen der Wartegruppe vergleichen. Den Autoren erschien es unethisch, ihnen die Therapie so lange vorzuenthalten, also wurden nun auch sie behandelt. Dennoch: Ein solcher molekularer Nachweis für die Wirksamkeit einer Psychotherapie ist bisher einmalig, meinen die Forscher.

Die Therapie, die zu diesen Ergebnissen geführt hat, wird in der Konstanzer Traumaambulanz weiterhin praktiziert. Die traumatisierten Kriegsflüchtlinge werden mit der Narrativen Expositionstherapie (NET) behandelt, einer gezielten Kurzzeittherapie. Sana-Bairo Sabally konnte mit ihrer Hilfe lernen, seine furchtbaren Erlebnisse dort zu verankern, wo sie sich abgespielt haben: als Teil seines Lebens in seiner Vergangenheit. Die ihn prägt, aber nicht mit ihrem Schrecken jeden neuen Tag dominiert. Die zwölf Therapiestunden, in denen er während der Studie seine traumatischen Erlebnisse bearbeitete, haben ihm sehr geholfen, sagt er. „Früher, als ich nach Deutschland gekommen bin, konnte ich niemandem vertrauen. Ich habe immer hinter mich geguckt und nach rechts und links, ob ich verfolgt werde. Aber heute ist das nicht mehr so. Ich habe jetzt keine Angst mehr vor den Menschen.“

Nach Beendigung der Studie hat Kolassa eine Arbeitsgruppe zur molekularen Psychotraumatologie gegründet. Mit ihr plant sie weitere Forschungen. Beispielsweise mit Müttern und Kindern, die Gewalt in der Schwangerschaft erlebt haben. Wie man weiß, zeigen Kinder, die schon im Bauch der Mutter Gewalt – und damit Stress und Trauma – erfahren haben, mehr DNA-Schäden als nichttraumatisierte Kinder. Wenn man diese Kinder 15 Jahre später untersucht, sind immer noch erhöhte DNA-Schäden sichtbar. Wie ist dieser Effekt erklärbar, fragt Kolassa, und will untersuchen, ob Stress und Trauma in der Kindheit langfristig auch zu einer Häufung von Autoimmunerkrankungen oder zu Krebs führen.

Und die Molekularbiologen? Sie inspirierte die Erkenntnis, dass DNA-Schäden durch traumatischen Stress hervorgerufen werden können, zu neuen Hypothesen und Forschungen: Zum Beispiel stellten sie in einer neuen Studie fest, dass eine chronische Stimulierung von Zellen durch Adrenalin zu einer Verminderung von p53 führt. P53 ist ein wichtiges Enzym, das die Reparatur der DNA und den Zellzyklus reguliert. Der Mangel an p53 schwächt das Verteidigungssystem der Zelle, und es kommt zu einer erhöhten Anzahl an DNA-Strangbrüchen. „Adrenalin ist aber höchstwahrscheinlich nicht der einzige Faktor“, vermutet die Mikrobiologin Maria Moreno-Villanueva. Um einen genaueren Einblick in die zugrundeliegenden Mechanismen zu erhalten, untersucht sie die Signalwege in Immunzellen. Sicher ist: Stress beeinflusst das Innere der Zellen. Aber wie genau Stress auf die DNA wirkt, ist noch längst nicht geklärt.

Das Trauma erzählen

Die Narrative Expositionstherapie hilft schwer Traumatisierten, das Erlebte in ihre Biografie zu integrieren

Die Narrative Expositionstherapie (NET) soll traumatisierten Menschen helfen, das Erlebte autobiografisch einzuordnen. Mithilfe des Therapeuten entwirft der Patient seine Lebensgeschichte als chronologische Erzählung und konzentriert sich dabei auf die traumatische Erfahrung. So sollen vereinzelte, mit starken negativen Gefühlen behaftete Erinnerungssplitter als kohärente „Geschichte“ mit der eigenen Biografie verknüpft werden.

„Wir gehen wirklich chronologisch vor“, erzählt Maggie Schauer, Leiterin der Traumaambulanz Konstanz, „durch die ganze traumatische Sequenz. Und immer wenn diese heißen Gedächtnisinhalte hochkommen, dann binden wir sie an den Ort, an den Kontext an. Damit sie in der Vergangenheit zurückbleiben und nicht immer wieder in der Gegenwart so eine Rolle spielen.“

Dabei hat die sogenannte Life­line, also die Lebenslinie eine ganz wichtige Bedeutung. Denn das biografische Gedächtnis von Menschen mit Traumafolgestörungen ist häufig zerrüttet. Die Überlebenden können nicht willentlich auf Erinnerungen zugreifen. Oftmals gehen ganze Lebensabschnitte unter. Die Traumatisierten vermeiden alles, was damit zu tun hat. Ihre Biografie wird lückenhaft, sie wirkt fremd, als gehöre sie nicht zu ihnen. Mithilfe der Lifeline kann in der Narrativen Expositionstherapie ein emotionales „Bedeutungsrelief“ des Lebens geformt und dargestellt werden. So können die Patienten erstmalig und unterstützt vom Psychologen Kontakt zu den fragmentierten Erinnerungen aufnehmen. Später entsteht daraus eine chronologische Erzählung des Lebens.

Edith Heitkämper

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2016: Die Harmonie-Lüge
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