Die Migräne – ein sicherer Ort?

Therapiestunde: Die Klientin leidet unter schlimmen Kopfschmerzen. In der Psychotherapie lernt sie: Es gibt gute Gründe für ihre Migräne

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Die Patientin ist eine zierliche Person, sportlich gekleidet, mit einem festen Händedruck. Sie wirkt kontaktbereit, fröhlich, aufgeschlossen, weder bedrückt noch ängstlich. Auf dem kurzen Weg vom Wartebereich in den Behandlungsraum überlege ich, was ihr Problem sein mag. Was führt sie in eine psychotherapeutische Praxis?

Ihr erster Satz klärt mich auf: „Mein Leben wäre perfekt – wenn ich nicht diese schreckliche Migräne hätte. Als ob mir ein glühender Nagel in den Kopf geschlagen wird. Meine Neurologin schickt mich, weil ich inzwischen jede Woche einen Anfall habe und die Tabletten nicht mehr so gut wirken wie in den ersten Jahren.“

Psychosomatische Symptome haben etwas Unergründliches. Genau gesehen sind alle Symptome schwer zu ergründen, und unser Wissen über ihr Kommen und Gehen bleibt wohl immer provisorisch. Aber psychosomatische Symptome sind unergründlicher als alle anderen. Dazu kommt, dass die Motivation zu einer Psychotherapie bei solchen Symptomen gering ist im Vergleich zu Ängsten, Zwängen oder Depressionen. Denn Schmerz lässt sich mit Tabletten oft sehr schnell lindern, während psychotherapeutische Gespräche, wenn überhaupt, nur sehr langsam eine neue Einstellung oder eine veränderte Lebensführung bewirken.

Welche Rolle spielt die Mutter?

Diese Patientin jedoch hat keine Einwände, als ich ihr eine tiefenpsychologisch fundierte Behandlung vorschlage. Sie arbeitet gut mit und klagt nicht mehr über ihre Kopfschmerzen.

Bald tritt die Beziehung zu ihrer Mutter in den Fokus unserer Gespräche. Sie ist die jüngste Tochter. Den älteren Geschwistern schien es gelungen zu sein, sich von den Ansprüchen der Mutter zu lösen. Die Klientin aber wird täglich von ihrer Mutter angerufen, die dann über den Vater klagt, der sie wegen einer anderen Frau verlassen hat. Und auch die beiden älteren Brüder, die angeblich von ihren Ehefrauen gegen die Mutter aufgehetzt werden, sind ständiges Thema.

Nach einer Weile gesteht die Patientin, dass die Kopfschmerzen nicht besser, sondern schlimmer geworden sind, seit sie in die Therapie komme. Ich bin schockiert – warum hat sie mir davon nichts gesagt? „Weil ich selbst schuld bin“, meint sie. „Ich wollte Sie nicht damit belasten!“ Sie könne sich eben nicht wehren, sie lasse sich zu viel gefallen. „Ich sehe jetzt ein, dass es an mir liegt. Ich kann nicht zu mir stehen. Meine Brüder machen das einfach, die denken nicht weiter nach. Aber ich bringe es nicht über mich. Meine Mutter hat doch sonst niemanden. Ich will keine Beziehung mehr anfangen, das letzte Mal war meine Mama beleidigt und der Mann auch, das geht doch nicht!“

Der Schmerz gibt die Erlaubnis, sich zu entziehen

Die Patientin hat verstanden, woher ihre Spannung kommt: Sie war in eine Rolle hineingewachsen, über die die Psychoanalytikerin Alice Miller ein Buch veröffentlicht hat: Das Drama des begabten Kindes. An der einfühlenden, gewissenhaften Sylvia war die Aufgabe hängengeblieben, das seelische Gleichgewicht der Mutter zu festigen. Ich frage sie: „Weiß Ihre Mutter überhaupt, wie es Ihnen geht? Weiß sie, dass Sie in Psychotherapie sind?“ „Um Gottes willen!“, erschrickt die Klientin. „Meine Mutter würde zusammenbrechen. Damit sage ich ihr doch, dass sie alles falsch gemacht hat!“ Ich wende ein: „Versetzen Sie sich in die Lage Ihrer Mutter. Wäre es Ihr wirklich lieber, das alles nicht zu erfahren?“ Sie denkt nach. „Eigentlich nicht. Sie kann sich ja ihren eigenen Reim machen. Ich tue ja nichts Böses, wenn ich zu Ihnen komme!“

Ich spreche jetzt auch noch ihre Versuche an, die Verschlechterung der Migräne vor mir zu verbergen. Der Klientin wird immer klarer, dass die Schmerzen sozusagen ihre Burg, ihr sicherer Ort sind. Sobald es ihr gutgeht, denkt sie an andere, an ihre Aufgaben und verliert sich selbst aus dem Blick. Aber in den extremen Schmerzzuständen, wenn es in ihrem Kopf tobt und jede Bewegung Übelkeit verursacht, ist ihr endlich alles egal, dann kümmert sie sich nur noch um sich selbst, fühlt sich für nichts und niemanden verantwortlich.

Sie ist erstaunt, als sie das herausfindet. Und nach einer besonders schlimmen Woche schildert sie endlich ihr Befinden ihrer Mutter, spricht von ihrer Therapie und sagt unter Tränen, wie wahnsinnig schwer es sei, herauszufinden, was sie selbst wolle, weil sie immer für andere da sein muss.

Die Mutter reagiert ganz anders, als Sylvia es erwartet hat. Sie ist neugierig, sie will wissen, was in der Therapie besprochen wird, wie solche Gespräche überhaupt aussehen. Und zeigt sich einsichtig: „Du musst es mir sagen, wenn du mir nicht mehr zuhören magst.“ „Ist es dir recht, wenn wir eine Weile nur am Wochenende telefonieren?“, fragt daraufhin die Tochter. „Aber sicher“, antwortet die Mutter. „Wenn du dich nicht zu allein fühlst am Abend, deshalb rufe ich doch an!“

Die Patientin erkennt: „Ich habe gedacht, ich muss die Mama anrufen, weil sie so allein ist. Sie hat gedacht, sie muss sich um mich kümmern, weil ich keinen Freund habe. Das ist doch verrückt!“ Ich atme auf. Humor ist immer ein gutes Zeichen; er hilft, Kränkungen zu verarbeiten und Kompromisse zu finden. In der Folge gehen die Migräneanfälle deutlich zurück. „Meine Migräne ist nicht mehr mein Feind“, sagt sie irgendwann. „Ich habe die Attacken immer noch, auch wenn sie seltener geworden sind. Aber ich verstehe jetzt oft, was passiert ist. Die Migräne packt mich am Schopf, wenn ich wieder einmal nicht nachgedacht habe, ob ich etwas wirklich will.“

Illustration zeigt eine Frau mit Kopfschmerzen
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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2018: Heilkraft Meditation
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