Aufs Ausleben von Trieben und Wünschen verzichten zu können ist eine essenzielle Kompetenz des Menschen und die Voraussetzung jeder Zivilisation. Die Welt ist limitiert, das Begehren grenzenlos, damit muss man zurechtkommen, als Einzelner wie als Gesellschaft. Nimmt man dem Kind sein Spielzeug weg, ist es traurig. Das ist eine gesunde, angemessene Reaktion. In der Gesellschaft beobachten wir derzeit das Gegenteil. Freiwilliger ebenso wie staatlich erzwungener Konsumverzicht weckt bei immer mehr Menschen Begeisterung. Sie wollen weniger dürfen und fordern ein Mehr vom Weniger. Was steckt hinter dieser Paradoxie?
Im öffentlichen Diskurs – befeuert von Social Media – ist es üblich geworden, politische Vorschläge in der Form moralischer Forderungen, Wertungen und Empörungen zu kommunizieren. Die moralische Rhetorik wendet sich nicht an die Vernunft, sondern zielt auf das Gefühl des schlechten Gewissens. Die täglichen Aufrufe zum Konsumverzicht haben zwar quantitativ wenig verändert, immerhin jedoch erreicht, dass immer mehr Konsumentinnen und Konsumenten beim Einkauf ein schlechtes Gewissen plagt. Doch ist es tatsächlich „gut“ und moralisch geboten, dass wir immer weniger haben wollen und kaufen sollten? Lieben wir den Verzicht bloß dafür, dass er uns in den Verzichterkreisen zu prahlen erlaubt?
Gefahr der Aufschaukelung
Zahlreiche Argumente für und wider sind bekannt – welches Licht könnte die Psychoanalyse auf den Konsumverzicht werfen? Das Ausmaß eines aktuellen Triebverzichts wird vom „Ich“ gesteuert. Die Ichfunktion besteht darin, die triebhaften Impulse des „Es“ mit den normativen Ansprüchen des „Über-Ich“ so zu integrieren, dass das Ergebnis auch realitätstauglich ausfällt. Doch das Ich ist nicht immer Herr im eigenen Haus. Wer etwa zur Manie neigt, kann sich durch Kauf- und Verschwendungssucht ruinieren. Depressive hingegen sind selten in Kauflaune, da sie nicht wünschen können. Sollen und Verbote verabsolutieren sich, bis alle Vitalität verloren ist.
Das destruktive Überborden des Über-Ich wird begünstigt durch eine Asymmetrie: Lässt das Ich dem Es ein Stück mehr Raum zur Triebabfuhr, geht es aus der Befriedigung gestärkt hervor. Das Über-Ich hingegen lässt sich durch die Befolgung seiner strengen Befehle nicht zufriedenstellen, im Gegenteil. Es wächst, je mehr man sich ihm unterwirft. Wer sein Über-Ich allzu brav füttert, nährt damit seinen schlimmsten Feind.
Jede und jeder Einzelne ebenso wie die Gesellschaft sollte für die Gefahr eigendynamischer Aufschaukelung des Über-Ichs ein Bewusstsein haben. Auch Moral kann übertrieben werden, kann einen Sog erzeugen und ins Unheil führen. Wer Politik als Moral verkauft, initiiert eine lawinenhafte Massenbegeisterung für den Verzicht. Für die Demokratie wäre es besser, wie ein intaktes Ich zu funktionieren.
Wolfgang Pauser ist freiberuflicher Essayist mit dem Themenschwerpunkt Konsum- und Alltagskulturen. In den 1990er Jahren unterrichtete er an der TU und der Universität für angewandte Kunst in Wien