Seit 2019 leiten Sie das Forschungsprojekt Tinder: Profiling the self an der Europa-Universität Flensburg. Sie sprechen von „Tinder-Fatigue“. Was stört denn die hierzulande über drei Millionen Nutzerinnen und Nutzer an der App?
Dating wird in der Ära der Dating-App als paralleler, quantifizierter Prozess betrieben und folgt dem Prinzip der geringen Investition. Dates sollen verfügbar und günstig sein, emotional sowie zeitlich und monetär. Das Gegenüber ist relativ gesehen austauschbar, weil es viele andere Alternativen zu geben scheint.
Man selbst setzt sich allerdings derselben Logik aus, und das wird als verletzend erlebt. Jede Annäherung steht unter ständiger Bedrohung, einseitig und feedbacklos aufgelöst zu werden – alle ghosten und werden geghostet. Um sich vor der ständig drohenden Enttäuschung zu schützen, erwartet man wenig. Aber auch wer nichts erwartet, wird enttäuscht, sogar programmatisch. Et voilà – so reproduzieren wir die sozialdynamische Dating-App-Erschöpfung als Missverständnis. Denn niemand datet, um eine schlechte Zeit zu haben, sich austauschbar zu fühlen und verletzt zu werden, trotzdem ist es genau das, was in tausendfacher Wiederholung geboten wird.
Inwiefern erfahren die altbekannten Geschlechterstereotype beim Onlinedating ein Revival?
Irgendwann ist es nicht mehr die eine Begegnung, die enttäuscht, sondern „alle Männer“ beziehungsweise „alle Frauen“ – man sucht nur noch nach der Ausnahme, unterstellt aber erst mal das Schlechteste. Und da sehen wir: Frauen werden wieder als umtriebig oder unattraktiv und damit wertlos oder als überanspruchsvoll und unmöglich gedeutet. Gesucht wird nach traditionellen Frauen, die besonders rein und unerfahren sind – es findet eine Re-Traditionalisierung statt. Männer kommen aber ebenfalls schlecht weg: Sie gelten als triebgesteuert, emotional verarmt, ungepflegt, erfolglos oder gefährlich – in jedem Fall nicht in der Lage, eine Frau zu unterhalten oder zu befriedigen. Diese Erwartungshaltung merkt man, so datet es sich nicht schön.
In Ihrer Studie beschreiben Sie auch eine kleine Gruppe glücklicher Onlinedaterinnen und -dater. Was kann man von diesen lernen?
Es gibt verschiedene Arten von glücklich Datenden. Die einen sind gut situiert, symmetrisch und jung – Sonnyboys und Sonnygirls. Das ist uninteressant, denn da ist der Fall klar. Die sind online erfolgreich und bekommen ausreichend positive Validierung. Spannender sind alle diejenigen, die hohe Resilienz zeigen. Das sind Menschen, die sich in der Selbstdarstellung wenig optimieren, nur swipen bis zum nächsten Match, dann erst mal schreiben. Sie sind weniger verfügbar, weil sie auch mal offline bleiben und Dates nicht massenhaft aneinanderreihen, sich dafür aber auf einzelne Treffen vorbereiten und sich trauen, sich zu freuen.
Was verstehen Sie unter „humanistischem Dating“?
Das wäre quasi der angewandte Dating-Imperativ nach Johanna Degen [lacht]. Niemand genießt Ghosting. Alle finden, dass Parallelität, Quantifizierung und Beschleunigung die Romantik, intime Begegnung und Annäherung erschweren. Niemand möchte sich als austauschbar erleben und Standardnachrichten bekommen oder erleben, dass man mit anderen so umgeht.
Alle wünschen sich schöne Momente, echtes Interesse, Respekt und Begegnung. Damit wäre der Schritt in eine schönere Zukunft recht einfach: Statt das Schlechteste zu unterstellen und wenig zu erwarten, sollten wir das Beste unterstellen, viel erwarten und bereit sein zu investieren: In solch einer Welt würden alle gerne daten. So einfach es klingt, so schwer mag es in der kollektiven Umsetzung scheinen, denn digitale Traditionen sind mächtig – allerdings sind sie auch kein Determinismus!
Dr. phil. Johanna L. Degen ist promovierte Sozialpsychologin und forscht im thematischen Bereich der Sozial-, Medien- und Arbeitspsychologie. Derzeit habilitiert sie an der Europa-Universität Flensburg.
Johanna L. Degens Buch Swipe, like, love. Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter ist bei Psychosozial erschienen (164 S., € 19,90)