Freud erklärte seinen Patienten die unbewussten Kräfte hinter ihren Symptomen und glaubte sie so von der Macht der Vergangenheit zu befreien. Sie mussten ihm dazu die Autorität geben, etwas zu wissen, das ihnen verborgen war.
Jürgen Körner, Psychoanalytiker und emeritierter Professor für Sozialpädagogik an der FU Berlin, bezeichnet das als das erste Modell psychoanalytischer Behandlung. Er nennt es „aufklären und bewusstmachen“. In einem kleinen, anschaulich geschriebenen Buch unterscheidet er davon zwei weitere Modelle: Das zweite bezeichnet er als „Subjektmodell“. Hier beschäftige sich der Analytiker mit der individuellen psychischen Realität des Patienten und helfe ihm zu verstehen, welche subjektive Bedeutung er seinen Erfahrungen verleihe. In einem dritten, „intersubjektiven Modell“ wiederum lasse er sich in die Beziehung mit dem Patienten ein.
Die drei Modelle, so Körner, gäben der Deutungskunst oder der Beziehungserfahrung unterschiedliche Gewichte für den Prozess der Heilung. Im ersten überwiege das Deuten, im letzten die neue Erfahrung, die der Patient mit dem Therapeuten mache.
Die Geschichte dieser Veränderung erzählt Körner auf überraschende Weise als eine „Emanzipationsgeschichte“ der Patienten. Die neuen Vorstellungen seien jeweils entstanden, weil Patienten nach etwas Neuem verlangt hätten. In der Zeit einer autoritären Gesellschaft hätten sie erwartet, vom Therapeuten aufgeklärt zu werden. Entsprechend habe Freud die Übertragung verstanden, jene Tatsache, dass Patienten dem Analytiker gegenüber so fühlen und sich so verhalten, wie sie das in der Beziehung zu wichtigen frühen Bezugspersonen gelernt haben. Freud bezeichnete dies als „Irrtum“ des Patienten nach dem Motto: „Sie meinen nicht mich, sondern Ihren Vater.“ Damit habe er sich aus der Beziehung herausgehalten.
Die Akzeptanz des Wandels
Im zweiten Modell, das sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete, werde dem Patienten kein Irrtum aufgezeigt, sondern mit ihm erarbeitet, wie er die Beziehung zu seinem Therapeuten erlebt und versteht. An die Stelle des wissenden Analytikers trete nun jemand, der Vorschläge unterbreite, wie man etwas verstehen könne.
Patienten, die in der Zeit der Postmoderne Probleme mit ihrer Identität in die Therapie brachten, hätten vom Analytiker noch mehr erwartet: dass er ihnen persönliche Antworten und emotionale Resonanz entgegenbringe, wenn sie in ihm etwa den abweisenden, unzuverlässigen oder überstrengen Vater wiedererlebten. Darauf einzugehen habe eine Begegnung „auf Augenhöhe“ erfordert, in der der Analytiker seine vormalige Macht abgeben musste.
So sympathisch Körners Entwurf einer Emanzipationsgeschichte der Patienten ist, so wenig berücksichtigt er, dass beide, Patienten und Therapeuten, Teil gesellschaftlicher Diskurse sind, in denen sie zwischenmenschliche Beziehungen ihrer Zeit gemäß neu verstehen. Indirekt aber gibt Jürgen Körner eines zu: dass sich die institutionalisierte Psychoanalyse immer schwertat, von sich aus auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Beim Thema Homosexualität war sie neben Militär und Kirche die letzte Institution, die die Macht ihrer Deutung aufgab.
Jürgen Körner: Die Kunst der Deutung und die Macht der Beziehung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, 78 S., € 12,–