Die Technik hat uns im Griff. Das stört Gerd Gigerenzer

Der Psychologe Gerd Gigerenzer beschreibt in diesem "Störgefühl", wie wir auf der Suche nach Kontrolle im Internet diese wieder abgeben.

Die digitale Welt suggeriert etwas, das wir nur zu gerne haben: Kontrolle, Vorhersagbarkeit, Sicherheit. Doch die Erfahrungen zeigen: Sie verleitet uns dazu, nicht mehr zu reflektieren und zu entscheiden, sondern uns der Technik hinzugeben.

Sie hat uns immer fester in der Hand, weil wir ihr nur zu oft die Entscheidungen überlassen – und damit den großen Techkonzernen. Anstatt dass wir die digitalen Werkzeuge für uns nutzen, lassen wir uns von ihnen benutzen. Wir schätzen es, wenn wir immer stärker vernetzt sind, und merken nicht, ab wann wir uns damit immer verletzlicher machen.

Es geht nicht allein um mangelndes Wissen und fehlende Erfahrung. Autofahrenden ist klar, dass es riskant ist, während des Fahrens aufs Handy zu schauen und Textnachrichten zu lesen. Etliche tun es trotzdem – es fehlt uns auch an digitaler Selbstkontrolle.

Mütter und Väter schieben den Kinderwagen vor sich her und sind derweil mit ihren Smartphones beschäftigt. Dabei möchten sie selbst nicht, dass ihr Nachwuchs später einmal nur noch übers Handy mit ihnen kommuniziert. Für Kinder gibt es intelligente Spielzeuge wie Hello Barbie, auch Abhörbarbie genannt. Diese zeichnen die Hoffnungen und Gefühle auf, die Kinder der Puppe anvertrauen. Die Information wird verkauft, unter anderem an die Eltern.

In der Arbeitswelt nehmen uns automatisierte IT-Systeme vieles ab, bis einige nicht mehr wissen, was zu tun ist, wenn die Technik nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Am Arbeitsplatz kann Digitalisierung sehr nützlich sein, aber nicht jede Anwendung liefert, was sie verspricht. Vieles ist Marketinghype und technoreligiöse Träumerei.

Im Gesundheitswesen vermarktete IBM den Supercomputer Watson für die personalisierte Therapie von Krebs, und Krankenhäuser weltweit kauften seine Dienste. Als sich dann herausstellte, dass viele der Therapieempfehlungen falsch und einige lebensgefährlich waren, ruderte IBM zurück.

In China wird derzeit ein Sozialkreditsystem erprobt, das jedem Menschen einen Kreditscore zuordnet. Dabei wird nicht nur unser finanzielles, sondern auch politisch und sozial relevantes Verhalten erfasst. Wir empören uns über diese totale Überwachung, geben aber selbst unsere persönlichen Daten ohne großes Schulterzucken ab. Wenn man soziale Medien mit Geld statt mit persönlichen Daten bezahlen könnte, wie viel wären Sie bereit, dafür monatlich zu zahlen? Eine Umfrage in Deutschland zeigt: 75 Prozent würden nicht einen einzigen Cent geben.

Unser Umgang mit Nachrichten ist nachlässig geworden: Dass wir oft nicht beurteilen können, wo eine Information „aus dem Netz“ wirklich herkommt, stört uns nicht. Auch dass wir oft nicht bereit sind, sorgfältiger zu lesen, nach Quellen zu suchen, finden wir normal. Über 90 Prozent der Digital Natives können Fakten von Fakenews nicht unterscheiden.

Ich werbe dafür, dass wir uns der Technologie weder unkritisch hingeben noch ihr völlig misstrauen, sondern dass wir ihr auf Augenhöhe begegnen. Zwei Voraussetzungen müssen vorliegen, damit das funktioniert: Wir müssen wieder mehr reflektieren, abwägen, klug entscheiden. Und wir müssen uns selbst beherrschen.

Gerd Gigerenzer ist Psychologe und Buchautor und leitet das Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Er war vor seiner Emeritierung Professor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin

Artikel zum Thema
Gesellschaft
Es ist immer dabei, bekommt Streicheleinheiten – und treibt uns manchmal in den Wahnsinn: das Smartphone. Über eine Hassliebe, die unsere Zeit prägt
Gesellschaft
Sex und Liebe mit der KI: Warum entwickeln wir Gefühle für einen Chatbot? Ab wann wir uns vor der eigenen Verliebtheit zur Maschine schützen sollten
Gesellschaft
In unserer Jogginghose lassen wir uns gehen. Direkt unter der Gürtellinie trennen wir Öffentliches von Privatem nicht und setzen ganz gechillt ein Zeichen.
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe
Anzeige
Psychologie Heute Compact 76: Menschen lesen