„Ich hab wieder prokrastiniert“

Wer Dinge aufschiebt, will sich abgrenzen gegenüber einer Arbeitswelt, die keine Grenzen mehr kennt, sagt Psychologin Christine Kirchhoff

Das Foto zeigt den Ausschnitt einer Person, die neben ihrem Laptop auf dem Bett liegt.
Fluch und Segen: Immer überall arbeiten zu können ist zwar modern, erfordert aber auch Kompetenzen in Sachen Abgrenzung. © Oleksiy Boyko/Alamy Stock Photo

Frau Kirchhoff, Prokrastination ist in der psychologischen Forschung negativ bis pathologisch besetzt. Sie sagen: Das war nicht immer so, früher wurde das Aufschieben neutral bis positiv bewertet. Können Sie mir dafür ein Beispiel geben?

Ja, heute ist Prokrastination eine Arbeitsstörung oder auf jeden Fall ein problematisches Verhalten. Diese Bedeutung ist erst mit der Industrialisierung entstanden. Wenn man weiter in die Geschichte zurückschaut, dann hieß prokrastinieren, dass man in der Lage war, wohlüberlegt zu handeln, weil man nämlich auf den richtigen Moment warten konnte. Es galt als kluges Verhalten, zum Beispiel im Militär: Wenn man abwarten konnte, bis der richtige Moment zum Eingreifen da war, dann war man ein guter Heerführer.

Sigmund Freud hat ja über Fehlleistungen geschrieben, also wenn man beispielsweise stolpert oder etwas vergisst. Seine These ist, dass diese Fehlleistungen einen auf etwas hinweisen, es gibt etwas, das einen an einer Handlung hindert, einen Zweifel – und dem sollte man nachgehen. Auch bei Sigmund Freud war Aufschieben – im Sinne von „dem Zweifel Raum geben“ – also positiv besetzt.

In der psychologischen Forschung heute und in der Ratgeberliteratur geht es meist eher darum: Wie schaffe ich es, anzufangen? Oder rechtzeitig fertig zu werden? Weil das Aufschieben eben auch eine subjektive Leidensseite hat.

Naja, weil es die subjektive Leidensseite war oder ist, die das Phänomen überhaupt erst wieder interessant gemacht hat. Bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts gab es keine psychologische Forschung zu Prokrastination, und im Deutschen fand man das Wort auch nicht; das tauchte überhaupt erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auf. Um die Jahrtausendwende ist es in der Alltagssprache angekommen, so dass Menschen sagen „Ich habe wieder prokrastiniert“ und damit überhaupt verstanden werden.

In dieser Zeit – seit den Siebzigerjahren – passierte in der Arbeitswelt das, was Soziologen als „Subjektivierung von Arbeit“ bezeichnen: dass man eigenverantwortlich arbeitet, sich in seiner Arbeit verwirklicht. Es wird etwas nach innen genommen: Ich muss nicht arbeiten, weil es dazugehört, weil ich Geld brauche. Sondern eigentlich lautet die Aufforderung: Ich muss arbeiten wollen.

Christine Kirchhoff ist Professorin für „Psychoanalyse, Subjekt- und Kulturtheorie“ an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Zur Zeit forscht sie zu „Abwehr, Aneignung, Widerstand. Bedingungen und Bewältigungsmodi der Klimakrise

Gleichzeitig wird Arbeit durch den Computer auch flexibler, viele Tätigkeiten können wir zu ganz unterschiedlichen Zeiten und an ganz unterschiedlichen Orten verrichten.

Was eine große Chance und ein großes Privileg ist: nämlich dann zu arbeiten, wann es passt und wo es passt. Was aber auch bedeutet, dass man eigentlich immer arbeiten kann und immer arbeiten muss. Und in dem Moment wird Prokrastination zum Problem.

Das ist das, was meine Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich an einer Studie zum Thema gearbeitet habe, und ich interessant fanden: Dass Prokrastination aus einer gesellschaftlichen Perspektive heraus die Rückseite einer Perfektionierungs- und Optimierungsanforderung ist.

Glauben Sie, Perfektionismus und Prokrastination hängen zusammen?

Auf jeden Fall. Eine Patientin einer Kollegin hat das mal so auf den Punkt gebracht: Wenn man keine Pausen machen kann und nie sagen darf: Ich habe genug gearbeitet, ich kann nicht mehr, ich habe gerade keine Lust oder mir macht diese Arbeit prinzipiell keinen Spaß – dann muss man prokrastinieren, um Abstand zu bekommen. Eine bewusste Pause zu machen setzt ja immer auch eine Distanz zu sich selbst und zum Arbeiten voraus und auch, dass man sich eingestehen kann, dass man nicht immer perfekt ist. Insofern gehen Perfektionismus und Prokrastination Hand in Hand.

Heute wird stark auf Eigenverantwortlichkeit gesetzt – wie ich mein Leben führe, ob ich später ausreichend Rente bekomme und so weiter. Da steigt natürlich der Druck und damit wird es schwieriger, sich selber zu begrenzen.

Heißt das, dass Menschen vielleicht auch prokrastinieren, weil sie gegenüber der Arbeit keine Grenze finden, und dass Prokrastination eine Form der Grenzziehung ist?

Ja. Die Arbeitsverhältnisse haben sich verändert: Wenn der eigene Arbeitstag eine äußere Grenze hat, dann muss meine innere Grenze nicht so gut halten. Wenn ich kaum äußere Grenzen habe beim Arbeiten und das auch gesellschaftlich so unterstützt wird, dann müssen die inneren Grenzen sehr gut sein, damit man trotzdem sagen kann: Jetzt reicht’s. Ich glaube, Prokrastination ist die Rückseite dieser Grenzenlosigkeit.

Würden Sie sagen, dass das Phänomen mit dem Internet schlimmer geworden ist? Bei der Schreibmaschine oder dem Computer ohne Netzzugang musste man sich ja aktiv Ablenkung suchen – und jetzt ist das nächste Katzenvideo immer nur einen Klick entfernt.

Ja, heute muss man zum Prokrastinieren nicht mehr aufstehen. Und Social Media, Apps und Spiele sind ja dazu noch so gestrickt, dass sie einen fesseln und immer auffordern, weiter zu machen; das nächste Video läuft schon, bevor man das andere beendet hat. Das befördert das Prokrastinieren natürlich noch, man müsste sich noch stärker abgrenzen als früher gegenüber anderen Tätigkeiten – denn wenn die Küche aufgeräumt war, war die Küche aufgeräumt. Dann konnte man auf die Idee kommen, dass man jetzt weiterarbeitet.

An diesem Beispiel sieht man auch, dass das Gefühl verloren gegangen ist dafür, wann eine Arbeit beendet ist: Es gibt diesen Rhythmus nicht mehr – wenn die Fenster sauber sind, sind sie sauber. Aber wenn man immer vernetzt ist, könnte man immer noch etwas tun, immer noch erreichbar sein für andere.

Was folgert aus Ihrer Analyse für die Psychotherapie: Wie müsste sich die Behandlung verändern?

Das ist eine schwierige Frage, weil wir in der Therapie immer nur das bearbeiten, was die einzelne Patientin oder den einzelnen Patienten betrifft – also die individuelle Seite. Aber ich glaube, es hilft bei allen Krankheitsbildern, die gesellschaftlichen Aspekte im Blick zu haben, sich dafür zu interessieren, unter welchen Bedingungen das Leiden entsteht.

Aber behandeln kann ich nur das individuelle Symptom: Wie kommt es bei dieser einen Person, mit der ich es zu tun habe, dazu, dass Prokrastination so ein Problem darstellt? Und dann ist es spannend, es als Symptom zu begreifen, als etwas, das darauf verweist, dass es irgendwo ein Problem oder einen Konflikt gibt. Zum Beispiel eben den Perfektionismus, dass man die unbewusste Erwartung hat, dass ein Produkt auf jeden Fall hundertfünfzigprozentig perfekt sein muss. Dann fängt man gar nicht erst an, weil man eine Ahnung hat, dass es so perfekt nicht werden wird.

Die Forschung konzentriert sich stark auf Menschen, die im Studium Dinge aufschieben – warum ist das so?

Der eine Grund ist der so genannte recruitment bias: Viele Studien in der Psychologie werden an Psychologiestudierenden durchgeführt, weil es leicht ist, andere Akademikerinnen und Akademiker als Probanden zu akquirieren. Beim Thema Prokrastination liegt es aber auch am Inhalt, weil sie als Arbeitsstörung unter Studierenden sehr verbreitet ist, das sagen auch die psychologischen Beratungsstellen an den Universitäten. Das akademische Arbeiten bringt genau die Freiheit, aber auch genau die Ansprüche mit sich, die Prokrastination nahelegen. Wenn ich in der Klinik arbeite, da gehe ich morgens rein und abends wieder raus und dann bin ich fertig. Die Patientinnen sind dort, die Akten sind dort, ich habe keine Chance, noch weiter zu arbeiten. Das ist beim akademischen Leben anders.

Welche Felder würden Sie im Privatleben erforschen, auf denen prokrastiniert wird?

Ich bin mir gar nicht so sicher, ob man das Arbeiten vom Privaten so deutlich trennen kann. Ich denke da an den Haushalt, der auch ein beliebtes Prokrastinationsfeld ist; also dass man die ganze Wohnung aufräumt, bevor man das macht, was mein eigentlich tun sollte.

Gleichzeitig ist es so: Wenn auch Alltagsaufgaben als so belastend erlebt werden, dass sie gar nicht erst angefangen werden, sind wir womöglich schon in einem Bereich, in dem man von klinischer Depressivität sprechen kann.

Das könnte also ein Hinweis darauf sein, dass die Prokrastination in eine schwerere Erkrankung übergeht?

Ja. Wir waren in unserer Studie überrascht davon, wie gravierend die Problematik ist. Prokrastination ist oft nur die Spitze des Eisbergs.

Was liegt unter dieser Spitze: Depressionen und Angststörungen? Oder ist das schon zu verengt?

Ich glaube, das ist schon zu verengt. Das ist jetzt Alltagsempirie, aber was ich von Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis höre, dazu würde ich sagen: Fast alle prokrastinieren, und man findet eigentlich die ganze Breite der Störungsbilder darunter.

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