Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“

Im Jahr 2004 prophezeiten Neurowissenschaftler ihrer Disziplin eine glorreiche Zukunft. Nun ziehen heutige Experten eine eher ernüchternde Bilanz.

Vor 10 Jahren, im Jahr 2004 wurde der Öffentlichkeit ein Manifest von Neurowissenschaftlern präsentiert, das eine äußerst optimistische Zukunftsperspektive der Hirnforschung erkennen ließ. Unter anderem sollten neue Neurotechnologien die Enträtselung des Gehirns und damit des Geistigen ermöglichen, und für die klinische Praxis sollten bald effektivere und nebenwirkungsärmere Psychopharmaka entwickelt werden. Schließlich sollte ein neues, wissenschaftlich fundiertes Menschenbild entstehen.

Die heutige Bilanz fällt aus unserer Sicht allerdings eher enttäuschend aus. Eine Annäherung an gesetzte Ziele ist nicht in Sicht. Die Ursachen dafür gehen weit über organisatorisch-technische Schwierigkeiten hinaus und liegen einerseits an Schwächen im Bereich der Theorie der Neurowissenschaft, andererseits an zu wenig durchdachten naturalistischen Vorannahmen und Konzepten, die wünschenswerte Brückenschläge zur Psychologie, Philosophie und Kulturwissenschaft nachhaltig erschweren.

Die Erkenntnis, dass psychische Prozesse auf Hirnprozessen basieren, führt nicht weiter

Bereits die oftmals unzulängliche Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen hat auf vielen Feldern zur Überschätzung eigener Erklärungsansprüche geführt: Selbstverständlich ist ohne Gehirn alles nichts, aber das Gehirn ist nicht alles, denn es benötigt den Körper, und der Körper benötigt die Umwelt. Aussagen wie „Psychische Prozesse beruhen auf Gehirnprozessen“ führen uns nicht weiter, denn psychische Prozesse benötigen auch die Atmung, den Blutkreislauf usw.

Auch die Verkürzung der Psychologie auf alltagsweltliche Begriffe und Konzepte und auf einfache Experimente ist problematisch. So bleibt oft unbeachtet, ob die experimentelle Operationalisierung einer Funktion den psychologischen Inhalt dieser Funktion zutreffend widerspiegelt. Außerdem zeigt die Forschung, dass eine psychische Funktion (z.B. Sehen) an mehreren Gehirnorten realisiert ist und dass andererseits ein Gehirnort an mehreren Funktionen beteiligt ist.

Damit werden mehrere Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung psychischer Funktionen zu Hirnstrukturen erkennbar. Dies beruht auf dem Netzwerkcharakter des Gehirns. Dieser Aspekt muss ausdrücklicher als zuvor durch die Einbindung der Systemwissenschaftberücksichtigt werden. Sie kann als mathematisch fundierte Disziplin helfen, die Funktionsweise des Gehirns als System zu verstehen. Das Gehirn ist ja aus Milliarden von zellulären Schaltkreisen aufgebaut, die eine hochkomplexe Signalaktivität aufweisen.

Der Mensch ist mehr als sein Gehirn

Um Gehirnfunktionen angemessen verstehen zu können, ist daher eine enge und institutionalisierte Zusammenarbeit von Biologie, Psychologie und Systemwissenschaft erforderlich, und zwar unter essenzieller Beteiligung der Philosophie mit ihren Facetten der Anthropologie, Philosophie des Geistes und Wissenschaftstheorie.

Eine bloße Ergänzung der (neuro)biologischen Beschreibung durch einige psychologische und geisteswissenschaftliche Randaspekte ginge am Ziel vorbei. Nur wenn die klinische Praxis, also Psychiater und Neurologen, in die Forschung eingebunden wäre, könnte die nötige Transdisziplinarität zustande kommen, die eine neue, diskursive und reflexive (nachdenkliche) Neurowissenschaft entstehen lässt, die auch ihre eigenen Grundlagen hinterfragen und ihre Grenzen erkennen kann.

Letztlich ist die Reduktion des Menschen und all seiner intellektuellen und kulturellen Leistungen auf sein Gehirn als „neues Menschenbild“ völlig unzureichend. In diesem einseitigen Raster ist der Mensch als Subjekt und Person in seiner Vielschichtigkeit nicht mehr zu fassen. Es ist immer die ganze Person, die etwas wahrnimmt, überlegt, entscheidet, sich erinnert usw., und nicht ein Neuron oder ein Cluster von Molekülen.

1. Einleitung

Im Jahr 2004 wurde ein anspruchsvolles „Manifest der Neurowissenschaftler“ verfasst, das ein optimistisches Bild der damaligen Lage und von zukünftigen Optionen der Neurowissenschaften skizzierte. So wisse man bereits, welche Lernkonzepte – etwa für die Schule – die besten seien (auf Seite 33 des Manifests). Das Manifest beeindruckte unsere wissenschaftliche Öffentlichkeit tief, sodass es nun 10 Jahre nach dieser Positionierung besonders interessant ist, seine Aussagen und die anvisierten Ziele zu überprüfen. Das Manifest war ein wichtiger Impuls, diese Forschungsrichtung sehr ernst zu nehmen, es wurden Erwartungen geweckt, aber auch Widersprüche hervorgerufen.

Die Bilanz des mittlerweile Erreichten ist allerdings ernüchternd. Das liegt aber nicht nur an mangelnden methodischen Durchbrüchen, unerwartet zeitaufwendiger Entwicklungsarbeit für Medikamente, fehlenden Forschungsgeldern, unzureichenden Organisationsstrukturen der Forschung und auch an der „zu kurzen“ Zeitspanne, sondern zu großen Teilen an wissenschaftssystematischen Schwierigkeiten der Neurowissenschaften. Wären die unbefriedigenden Ergebnisse allein durch technische und organisatorische Probleme bedingt, dann wären vielleicht die Ziele noch nicht erreicht, aber eine Annäherung an diese wäre erkennbar.

Das Erklärungspotenzial der Hirnforschung wird überschätzt

Das Ausbleiben einer solchen Entwicklung liegt auch nicht daran, dass eine differenzierte Fachlichkeit nicht leicht in einer gehobenen Umgangsprache abzubilden ist oder dass Medien die Aussagen überzeichnet hätten. Es liegt im Wesentlichen an Unzulänglichkeiten im Bereich der Theorie und Methodologie der Neurowissenschaften. Die genauere Betrachtung des Manifests führt nämlich zu der Vermutung, dass Hirnforscher oft von impliziten erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Annahmen ausgehen, die sie das Erklärungspotenzial der Hirnforschung überschätzenlassen.

Wären diese Ansprüche und ihre Probleme nur von theoretischer Bedeutung, so wäre eine Diskussion weniger wichtig. Offensichtlich hat aber die Öffentlichkeit aus vielerlei Gründen an den praktischen Erfolgen der Hirnforschung großes Interesse. Die Klärung des wahren Potenzials der Neurowissenschaft sowie der Bedingungen, unter denen sich dieses Potenzial am besten entwickeln kann, ist deshalb keine rein akademische Aufgabe, sondern hat beträchtliche soziale Konsequenzen.

2. Gesellschaftliche Bedeutung

Psychiatrische und neurologische Erkrankungen machen nach Einschätzung der WHO heute einen Großteil aller Erkrankungen aus. Diese Situation wird sich noch verschärfen. Deshalb wird von klinisch tätigen Ärzten sowie von Patienten und deren Angehörigen nichts sehnlicher erwartet als Fortschritte der Neurowissenschaften.

Auch bestehen gesellschaftliche Erwartungen zur Frage der neurobiologischen Früherkennung und Einschätzung von potenziellen Gewalttätern. Schließlich ist das Verständnis des Gehirns von größter Bedeutung für das anthropologische Selbstverständnis des Menschen. Mit unseren Konzepten vom Gehirn und dem Geistigen ist die rechtliche, soziale und kulturelle Ordnung unserer Gesellschaft eng verbunden. Es geht also um nichts weniger als die Frage: Was ist der Mensch?

3. Einige Feststellungen und Prognosen des Manifests

Was haben nun die Neurowissenschaftler damals versprochen, und was haben sie gehalten? Blickt man 10 Jahre zurück, so sind zwar Fortschritte in der Neurobiologie erkennbar, aber es ist nicht viel Sensationelles in Forschung und Praxis zu vermelden. Das Manifest prognostiziert hingegen (S. 36): „In absehbarer Zeit wird eine neue Generation von Psychopharmaka entwickelt, die selektiv in bestimmten Hirnregionen an definierten Nervenzellrezeptoren angreift. Dies könnte die Therapie psychischer Störungen revolutionieren.“

Für die Behandlung psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen sind Medikamente zwar ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Es war aber bereits vor 10 Jahren bekannt, dass spezielle Medikamente, ob sie auf einen oder mehrere spezifische Rezeptortypen einwirken, keine wesentliche therapeutische Effektsteigerung bringen und darüber hinaus problematische Nebenwirkungen auslösen können.

Die Schwierigkeit für die aktuell eher stagnierende Entwicklung von Psychopharmaka besteht darin, dass die molekularen Hirnmechanismen, die beim Auftreten von psychischen Erkrankungen relevant sind, in vielfältiger Weise funktionell eng miteinander verbunden sind. Diese molekularen Netzwerke erschweren auch das Verstehen der psychischen Wirkung von Drogen.

Die Technik entwickelt sich, das Wissen nicht zwingend

Derzeit ist bei verschiedenen psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen die Anwendung von Elektroden zur tiefen Hirnstimulation sehr beliebt. Dieses Verfahren ist bereits aus Tierexperimenten der 1960er Jahre bekannt. Die heutige breite Anwendung dieser Methode lässt jedoch erkennen, dass sie zwar effektiv, aber nur verhältnismäßig unspezifisch wirksam ist. Auch das ist durch die hochgradige Vernetzung neuronaler Schaltkreise erklärbar.

Das entsprechende Konzept vom Gehirn als Netzwerk hat in den letzten Jahren zu der Vorstellung krankheitsspezifischer Netzwerktypen geführt, wobei diese Grundhypothese mangels systematischer empirischer Daten noch nicht gut belegt ist. Lernende künstliche Netzhäute des Auges und Neuroprothesen, wie sie im Manifest gelobt werden (S. 36), sind weiterhin eher Zukunftsmusik. Bisherige Erfolge beschränken sich auf wenige Fälle, in denen nur eine rudimentäre Wiederherstellung von Funktionen gelungen ist.

Zweifellos haben in den vergangenen 10 Jahren einige Bereiche der Neurologie, vor allem die Neurochirurgie und die Neurorehabilitation, einen guten Fortschritt gemacht. Eingriffe sind heute möglich, von denen man vor einigen Jahren nur träumen konnte. Doch betrachtet man diese Fortschritte genauer, so findet man ihren Grund in der Entwicklung der Technik, allem voran der digitalen Technologien, und nicht im erweiterten Wissen über die zugrunde liegenden Prozesse im Gehirn.

Bedeuten mehr Daten ein größeres Verständnis?

Auch in der experimentellen Hirnforschung ist technisch-apparativ einiges vorangekommen: Wenn man auf die Optogenetik blickt, auf Multi-Elektroden-Ableitungen, auf das Fibertracking und Untersuchungen im Ruhezustand („resting state“), auf Methoden der Identifikation der Verbindungen von Gehirngebieten etwa in Form des Projekts des Human Connectome, auf das Human Brain Project als Programm der Rekonstruktion des menschlichen Gehirns – dann liefert all dies immer detailliertere Beschreibungen. Und das ist gut so! Die Hirnforschung scheint allerdings von der Grundannahme auszugehen, dass mit höherer Detailtreue der Empirie auch das Verständnis der Mechanismen zunimmt.

Da ist zu fragen: Bedeuten mehr „Daten“, in gleichem Maße mehr „erklären“ und „verstehen“ zu können? Diese Fragen berühren das philosophische Gebiet der Wissenschaftstheorie. Die Einbindung entsprechender philosophischer Kompetenzen könnte zu vertiefter Reflexion über das Erkenntnispotenzial der Neurowissenschaften führen.

4. Die Verortung des Psychischen im Gehirn

Zu dem jahrhundertealten Projekt, Zuordnungen zwischen psychischen Funktionen und Gehirnstrukturen zu treffen, sagen die Autoren des Manifests, dass sie eine thematische Aufteilung der obersten Organisationsebene des Gehirns nach Funktionskomplexen“ gewonnen hätten (S. 31). Damit nicht genug (S. 33): „Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, dem Erleben von Empfindungen und dem Treffen von Entscheidungen beziehungsweise der absichtsvollen Planung von Handlungen.“

Hier ist zunächst erkennbar, dass unausgesprochene philosophische Überzeugungen zum ontologischen Verhältnis von innerpsychischen Prozessen und Gehirnvorgängen einfließen. Es wird außerdem unterstellt, dass „sämtliche“ psychischen Funktionen, also auch alle Emotionen, bereits experimentell untersucht worden sind. Das ist schlichtweg unzutreffend, sodass diese Aussage bestenfalls als Hypothese, aber nicht als Befund zu werten ist. Zum anderen wäre es falsch, den Sachverhalt eines „Einhergehens“ als Beweis kausaler Zusammenhänge zu verstehen.

Tatsächlich gehört es zu den Grundtatsachen der mathematischen Statistik, dass Korrelationen allein keine Kausalität begründen. Psychische Phänomene gehen auch mit der Aktivität des Herzen, des vegetativen Nervensystems und der gesamten Muskulatur einher. So wie man im Prinzip ohne Hirnrinde nicht denken kann, kann man ohne Arme keine Bäume fällen, ohne Beine nicht gehen und ohne Augen nicht sehen. Es ist außerdem sicher, dass auch molekulare und elektrische Prozesse in Gliazellen mit psychischen Prozessen „einhergehen“.

Mehrere Hirnareale für eine psychische Funktion

Die Gleichsetzung des Gehirns mit Nervenzellen, womöglich sogar nur mit solchen der Großhirnrinde, ist also bereits eine zu eng gefasste Reduktion, denn letztlich könnten auch Sauerstoff und Glukose als notwendige Bedingungen der Gehirnaktivität und damit von psychischen Prozessen angesehen werden. Findet man deshalb parallel zu psychischen Prozessen und Zuständen Gehirnaktivitäten, dann ist deren Spezifität nachzuweisen. Andernfalls gleitet man in unzeitgemäße Trivialitäten ab.

Es zeigt sich darüber hinaus bereits seit Jahrzehnten, dass eine eindeutige Struktur-Funktion-Zuordnung mit erheblichen Unschärfen verbunden ist. Das stellt sich besonders eindrucksvoll am Beispiel des Sehens dar, an dem mehr als 30 Hirnareale mit etwa 900 Verbindungswegen beteiligt sind. Es verwundert daher auch nicht, dass ein Gehirnareal wie der präfrontale Kortex multiple Funktionen wie Sehen, Bewerten, Gedächtnis, usw. aufweist.

Die Frage, auf welcher Organisationsebene und mit welcher Ortsauflösung einzelne psychische Funktionen realisiert werden, dürfte deshalb am Problem vorbeigehen. Hier setzen bereits die neueren Konnektivitätsanalysen an. Das Gehirn ist wegen seiner hochgradigen Rückkopplung seiner Areale als ein operational geschlossenes System oder aktueller formuliert: als ein „Netzwerk“– zu charakterisieren. Sinngemäß gilt somit grundsätzlich: Eine psychische Funktion wird an mehreren Gehirnorten realisiert, und ein Gehirnort ist an mehreren Funktionen beteiligt.

Mehr Grundlagenforschung zur Hirntheorie nötig

Darüber hinaus müssen die psychologischen Termini, die neurobiologisch „erklärt“ werden sollen, vorher genau abgegrenzt und auch messtechnisch definiert werden. Nur so können sie von dem unscharfen Bedeutungsfeld der gehobenen Umgangssprache abgegrenzt werden. Anders gesagt: Die Qualität der Zuordnung einer Funktion zu einer Struktur hängt wesentlich von der Präzision der Definition des jeweiligen Funktionsbegriffs ab. Um zum Beispiel Aufmerksamkeit bestimmten Orten im Gehirn zuzuordnen, muss man zuerst klären, was die Aufmerksamkeit wissenschaftlich-psychologisch gesehen ist.

Bei entsprechenden Präzisierungsbemühungen geht aber leicht der Bezug zum phänomenalen Erleben abhanden, was die Gültigkeit der Aussagen zusätzlich mindert. Dieses Problem ist vor allem für die Psychiatrie bedeutsam, da eine „Verortung“ psychischer Krankheiten im Gehirn bisher oft nicht oder nur zum Teil gelungen ist und aus den genannten Gründen auch kaum zu erwarten ist. Es ist also festzustellen, dass die methodologischen Probleme der Zuordnungen von Strukturen und Funktionen, wie sie in der modernen Philosophie des Gehirn-Geist-Problems diskutiert werden, von den Neurowissenschaftlern nur unzureichend berücksichtigt worden sind.

Die Vernachlässigung der erkenntnistheoretischen Problematik, in der Hirnforschung Struktur-Funktion-Beziehungen herzustellen, die grundlegend in der Perspektivendifferenz zwischen der subjektiven Erste-Person-Perspektive und der objektiven Dritte-Person-Perspektive bestehen, zeigt zugleich, dass die Forschungsressourcen zu wenig in wichtige Bereiche der Grundlagenforschung gelenkt werden:

Es müsste nämlich mehr in den Bereich der Theorie des Gehirns investiert werden, statt nahezu ausschließlich auf die Ausweitung der Datenbanken zu setzen, die bereits so komplex sind, dass sie kaum mehr übersehbar und damit auch immer weniger verstehbar sind.

5. Methodologische Grundfragen – das Gehirn-Geist-Problem

Die Autoren des Manifests erwecken den Eindruck, bereits über die Lösung des Gehirn-Geist-Problems zu verfügen (S. 33): „Wir haben herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände ... auf das Engste miteinander zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewussten in bestimmter Weise vorausgehen.“

Wen wundert es? Die Einsicht der Hirnabhängigkeit psychischer Prozesse reicht im Prinzip teilweise bis Hippokrates und – was das Unbewusste betrifft – bis Sigmund Freud und sogar bis Friedrich Nietzsche zurück. Sie ist also nicht der modernen Neurowissenschaft zu verdanken, obwohl sie nun eng mit Letzterer verknüpft ist.

Es ist klar: „Ohne Gehirn ist alles nichts!“ Man hat jedoch noch nie von „freilaufenden“ Gehirnen gehört. Das heißt „ Das Gehirn ist nicht alles. “ Ohne Körper und ohne Bezüge zu dessen Umgebung ist es auch ein „Nichts“! Das entspricht nicht nur der Alltagsrealität, sondern auch heutigen anerkannten analytischen Positionen der Philosophie des Geistes. Es geht also nicht um das „Dass“, sondern um das „Wie“ des „Zusammenhängens“ und des „Vorausgehens“.

Dazu führen die Autoren des Manifests aus (S. 33): „Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.“

Das ist Metaphysik, aber nicht empirische Neurobiologie. Beispielsweise hohe Dopamin- und Endorphinkonzentrationen in bestimmten Gehirnregionen einem Lustzustand zuzuordnen bedeutet nicht, dass psychische Phänomen Lust als physikochemisches Phänomen treffend „beschreiben“ zu können. Außerdem bedeutet eine Beschreibung noch keine wissenschaftliche Erklärung: Man kann zum Beispiel Geldscheine physikalisch als Papierstücke beschreiben, aber ihre Erklärung ist nur mithilfe der Wirtschaftswissenschaft möglich.

Von der Naturwissenschaft zur Naturphilosphie

Dennoch behaupten die Autoren des Manifests (S. 36): „Das bedeutet, man wird widerspruchsfrei …. Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.“ Es fragt sich bei dieser Behauptung, etwa im Hinblick auf die Willensfreiheit, wie es möglich ist, „freie“ und „unfreie“ biologische Prozesse voneinander zu unterscheiden.

Aber vor allem ist die Vermischung von notwendigen und hinreichenden Bedingungenschwerwiegend, da in einem sehr trivialen Sinne alle menschlichen Leistungen „auf biologischen Prozessen beruhen“, denn man muss zum Beispiel atmen, um etwas zu leisten, woraus jedoch nicht folgt, dass alle menschlichen Leistungen als Atmung „angesehen“ werden können. Hier zeigen sich also allzu einfache Verursachungstheorien.

Es wird sogar gesagt (S. 33): „Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution des Nervensystems allmählich herausgebildet … das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften …“ Mit derartigen spekulativen Aussagen wird, vom Leser unbemerkt, der Übergang von der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie und letztlich zur Metaphysik vollzogen. Und die evolutionsbiologische Aussage, dass das Bewusstsein sich im Laufe der Geschichte der Arten entwickelte, hat wenig zu tun mit einer neurobiologischen Aussage, dass wir das Funktionieren dieses Bewusstseins auch nur annähernd verstehen.

Der Mensch erlebt, nicht das Gehirn

Aber schließlich folgt mit einem Anflug von epistemischer Selbstbegrenzung die überraschende Aussage (S. 33): „…Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als ,seineʼ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte.“

Es ist in der Tat eine große Herausforderung, zu verstehen, „ wie ein Gehirn seine zukünftigen Aktionen plant,“ denn wir kennen „Planen“ nur beim Menschen und bei intelligenteren Tieren. Das sind jedoch komplexe Organismen, nicht einzelne, vom Körper abgekoppelte Organe, die weder Sinnes- noch Ausdrucksfunktionen aufweisen. Ein Gehirn kann sich deshalb auch nichts „merken“.

Die Eigenschaft, auf eine erneute Reizung stärker zu reagieren, ist als solche ebenso wenig schon der Ausdruck einer „Gedächtnisfunktion“, wie es die Eigenart einer Fensterscheibe ist, nach einem Steinwurf einen Sprung aufzuweisen. Beachtet man diesen Unterschied nicht, so ist der Weg in einen allgemeinen Animismus nicht mehr weit, der doch gerade durch die Aufklärung, zu deren hartem Kern die Neurowissenschaft gehören möchte, beseitigt werden sollte. Nicht das Gehirn erlebt, sondern der Mensch.

Das Gehirn – ein hochkomplexes, dynamisches System

Ein grundsätzliches Problem der Hirnforschung besteht also darin, dass sie derzeit noch über keine differenzierte und übergreifende Gehirntheorie verfügt. Sie muss daher mit fokalen Hypothesen operieren, welche zu Schlussfolgerungen führen, die nicht selten übermäßig generalisiert werden. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach der Sprache des Gehirns (S. 33):„Um diesen Signalcode zu entschlüsseln, bedarf es wahrscheinlich paralleler Ableitetechniken, die eine gleichzeitige Messung an vielen Stellen des Gehirns erlauben“.

Es wird also wiederum auf technologische Fortschritte gesetzt, wobei das prinzipielle Problem übersehen wird, wie die damit gemessenen komplexen Aktivitätsmuster „entschlüsselt“ werden können. Die bei der Analyse komplexer Datensätze anwendbaren mathematischen Methoden steigern nämlich an sich und nach allem, was wir heute wissen, den Erkenntniswert nicht wesentlich über die Aussage hinaus, dass das Gehirn ein extrem komplexes dynamisches System ist, dessen Besonderheiten bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen sich der unmittelbaren Anschauung noch immer entziehen.

Störungen wichtiger „Gehirnmarker“ (EEG, evozierte Potenziale) lassen sich häufig nur auf der Ebene mathematischer Transformationen identifizieren. Des Öfteren fehlt dabei – und dies ist wesentlich – das Verständnis der betreffenden Wirkmechanismen. Die allgemeine Akzeptanz einer theoretischen Neurobiologie, ähnlich der theoretischen Physik, ist demnach erst in der Zukunft zu erwarten. Die Autoren des Manifests waren hier weitaus optimistischer (S. 33):

„So wird sich neben der experimentellen Neurobiologie die theoretische Neurobiologie als Forschungsdisziplin durchsetzen, die dann ähnlich wie die theoretische Physik innerhalb der Physik eine große Eigenständigkeit besitzt.“

Die besondere Rolle der Systemforschung

Wir meinen, dass die obige Behauptung zwar auf eine sehr wünschenswerte, aber leider noch nicht erreichte Situation zielt. Bei diesem Projekt der Etablierung einer theoretischen Neurowissenschaft, die auf der Computational Neuroscience aufbauen kann, kommt der Einbindung der bereits interdisziplinär und durchaus mathematisch operierenden Systemforschung bzw. Systemwissenschaft eine Schlüsselrolle zu, insofern sie ausdrücklich den Systemcharakter des Gehirns berücksichtigt:

Die zirkuläre, rückgekoppelte Kausalität im Gegensatz zur kaskadierten Kausalität und ebenso die unterschiedlichen Skalen, auf denen sich unterschiedliche Phänomene abspielen, sind Schlüsselprobleme im Verstehen der Gehirnprozesse, da vor allem durch verzögerte Rückkopplungsprozesse komplexe Aktivierungsmuster entstehen können. Eine entsprechende nichtlineare Dynamik kann bereits bei zwei unterschiedlich operierenden rückgekoppelten Elementen auftreten (Aktivator-Inhibitor-System).

Zum Beispiel: Ein Aktivator eines zugeschalteten Inhibitors empfängt von diesem über die Rückkopplung eine Hemmung, welche die Aktivität des Aktivators mindert. Dies führt in der Folge zur Minderung der Aktivität des Inhibitors, sodass der Inhibitor mit seiner Rückkopplung den Aktivator wieder weniger hemmt, der nun wieder stärker aktiv werden kann usw. Ein solches Minisystem kann also oszillierendes Verhaltenzeigen.

Wie kann die Erkenntnistheorie nützlich sein?

Wenn man nun bedenkt, dass bei zirka 1011 Neuronen mit ihren insgesamt zirka 1014 Schaltstellen jedes Neuron durchschnittlich nach drei oder vier dazwischen geschalteten Neuronen wieder ein Feedback bekommt, dann wird verständlich, dass, solange die Hirnforschung noch nicht von starken Theorien mit zugehöriger Begriffsbildung geleitet wird, die gesamte neuronale Netzwerkdynamik unübersehbar und unverstehbar bleiben muss.

Denkt man weiterhin an die Vielzahl der Gliazellen, dann wird das Ausmaß des Nichtverstehens der Prozesskomplexität des Gehirns noch deutlicher. Das war auch 2004 – , seit den Darlegungen von Kybernetikern wie Valentino von Braitenberg und Heinz von Foerster – bereits 20 Jahre lang bekannt.

Woran es also fehlt, ist eine Fundierung der Neurowissenschaften durch eine systemische Methodologie, die nicht nur die äußerst potenten, aber damit oft komplizierten mathematischen Methoden nutzt, sondern auch die erkenntnis­theoretische Seite des Verstehens komplexer, sich nicht linear verhaltender Systeme behandelt. Der kompetente Umgang mit Computersimulationen als Heuristik kann dabei ein wichtiges Hilfsmittel sein. Mathematik als solche ist in diesem Zusammenhang nicht ausreichend, denn parallel dazu sind konzeptuelle Theorieentwicklungen nötig.

Derartige Gehirntheorien müssten allerdings wieder auf die Ebene der Allgemeinverständlichkeit und des qualitativen Verstehens zurückgeführt werden können, damit die notwendig interdisziplinäre Arbeit insgesamt Erkenntnis­gewinne einbringt. Dies bedeutet nicht nur eine Herausforderung an die Mathematik, und zwar wegen der nötigen Interdisziplinarität auch in offener, gegenseitiger Verständlichkeit. Außerdem ist eine viel engere Zusammenarbeit zwischen Experiment und per se mathematisch ausgerichteter Theorie erforderlich.

7. Menschenbild – Gebiet der philosophischen Anthropologie

Die Autoren des Manifests glauben, dass die Neurobiologie das Menschenbild verändern wird (S. 36):

„Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus.“ Man werde ja erkennen und verstehen, „wie [das Gehirn] das innere Tun als ‚seine‘ Tätigkeit erlebt … und wie es zukünftige Aktionen plant … (S. 33).

Diese Aussage lässt erkennen, dass hier der Mensch mit seinem Gehirn gleich gesetzt oder darauf reduziert wird. Es wird dem Gehirn die Fähigkeit des Organismus, des Menschen zugeschrieben, was ähnlich abwegig ist, wie einen Transistor bereits als Radio anzusehen. In der Alltagssprache ist es gang und gäbe, geistige Funktionen einzelnen Körperteilen („Meine Ohren können seine Reden nicht mehr hören!“) oder sogar Außenobjekten („Mein Auto freut sich, wenn es diese Autobahn fährt“) metaphorisch zuzuordnen.

Ist das „neue Menschenbild“, in dem nicht ich, sondern mein Gehirn sieht, fühlt und Handlungen plant, tatsächlich mehr als eine solche Metapher? Bringt uns die einfache Umschreibung der Funktionen vom Geist auf das Gehirn wirklich weiter? Was ist gewonnen, wenn wir sagen „Mein Mandelkern ist im Erregungszustand“ statt „Ich fürchte mich“? Das metaphorische Denken ist für die Wissenschaft unentbehrlich, aber es lassen sich damit keine sachlichen Zusammenhänge begründen. Es ist, wie Bennett und Hacker (2003) sagten, völlig in Ordnung, vom „Fuß“ eines Berges zu sprechen, solange man nicht nach dessen Schuh sucht.

Braucht es ein neues Menschenbild?

Allerdings ist im Manifest auch Bescheidenheit zu erkennen (S. 36): „Insbesondere wird eine vollständige Beschreibung des individuellen Gehirns und damit eine Vorhersage über das Verhalten einer bestimmten Person nur höchst eingeschränkt gelingen. Denn einzelne Gehirne organisieren sich aufgrund genetischer Unterschiede und nicht reproduzierbar Prägungsvorgänge durch Umwelteinflüsse selbst, und zwar auf sehr unterschiedliche Weise, individuellen Bedürfnissen und einem individuellen Wertesystem folgend.“

Hier werden plötzlich neben rein biologischen Ursachen die Ursachen ganz anderer – sozialer, ethischer – Ebenen eingeführt (Werte), und das bedeutet, dass die Autoren bereit sind, ihr gerade aufgebautes hirndeterministisches Menschenbild zugunsten eines anderen, integrativen aufzugeben, denn „Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen“ (S. 37).

Diesem Satz stimmen wir vollständig zu, aber es genügt nicht, ihn als Fußnote wissenschaftlichen Erklärungen hinzuzufügen. Denn dieser Dialog muss organisiert und institutionalisiert werden, aber zunächst nur, um zu überprüfen, ob wirklich ein neues Menschenbild erforderlich ist. Es sind vielmehr wesentliche neurowissenschaftliche Befunde mit Fachvertretern zu diskutieren, die aus verschiedenen Bereichen kommen und die jeweils einen Einblick in einen anderen, angrenzenden Bereich haben.

Auf diese Weise wäre die erforderliche integrative Interdisziplinarität realisierbar und nicht nur eine assoziative Interdisziplinarität.Das allerdings wird durch die bisweilen zu starre fakultäre Struktur von Universitäten behindert – beispielsweise wären hier interdisziplinäre Zentralinstitute hilfreich!

8. Disziplinäre Zuständigkeit

Welche wissenschaftlichen Disziplinen sind den Neurowissenschaften zuzuordnen? Genügt es, einfach den gemeinsamen Gegenstand, nämlich das Gehirn als Kriterium zu wählen? Welche Position haben dann die Psychologie und jene Disziplinen, die über das Medium Sprache mit den Versuchspersonen arbeiten und dabei also nur indirekt Hirnfunktionen und nicht etwa elektrische Gehirnaktivität messen und prüfen? Ist ein derartiger Methodenmix hinreichend aussagekräftig?

Diese Fragen lassen sich durch die Analyse der spezifischen Fachbegriffe, Methoden und Modelle klären. Dabei sind die Mathematik und Methodik der Systemwissenschaftmit ihrer Kompetenz der Analyse komplexer dynamischer Systeme äußerst hilfreich.

In Hinblick auf diese Aufgaben erscheint uns vor allem die Einbindung der Philosophie wichtig, insofern sie eine jahrhundertelange Erfahrung mit Grundfragen zu unserem Wissen von der Welt hat, und im Besonderen zu Fragen des Menschenbildes (philosophische Anthropologie), der Ethik und der Wissenschaftstheorie wertvolle Erkenntnisse einbringen kann.

„Neurophilosophie“ – das Forschungsfeld der Zukunft?

Eine Aufgabe der Philosophie ist, alltagsweltliche und wissenschaftliche Weltbilder zu verbinden, auch was ethische Aspekte betrifft. Philosophie kann auf diese Weise den Neurowissenschaften vor allem Anregungen zur Nachdenklichkeit geben, um der Gefahr eines methodisch-technischen Aktionismus und drohender Überinterpretation naturwissenschaftlicher Befunde zu begegnen. Diese philosophische Betrachtungsweise fehlt im Konzept der Neurowissenschaftler, so wie sie sich im Manifest äußerten.

Wir meinen daher, dass eine weitgefasste Neurobiologie, die experimentelle, klinische und theoretische Arbeitsansätze beinhaltet, gemeinsam mit der Psychologie, der Systemwissenschaft und der Philosophie die beste Basis für eine nachdenkliche („reflexive“) Neurowissenschaft bzw. für eine interdisziplinär fundierte „Neurophilosophie“ ausmacht, die nötig ist, die Neurobiologie bei ihrer weiteren Entwicklung zu begleiten.

Multidisziplinär qualifizierte Akteure in dieser Plattform der Nachdenklichkeit könnten eine bessere Anschlussfähigkeit garantieren, um nicht in Einseitigkeiten und Polarisierungen unnötig Kräfte zu verlieren. Diese Praxisform einer auf Kooperation ausgerichteten Neurowissenschaft wäre sogar als „nichtreduktive“ Neurowissenschaft zu bezeichnen.

9. Fazit: Auf dem Weg zu einer reflexiven Neurowissenschaft

Jetzt scheint ein wichtiger Zeitpunkt der Zäsur des damals im Manifest Angedachten zu sein. Es zeigt sich als entscheidender Mangel, dass bislang keine empiriegestützte Gehirntheorie im Sinne einer umfassenden Gesamtschau entwickelt werden konnte. Angesichts beeindruckender Fortschritte der formalen Methoden in der Hirnforschung scheint dies eine seltsame Behauptung zu sein.

Die Erfolge der mathematisch begründeten Neurowissenschaften beschränken sich jedoch auf die Vorhersage wohldefinierter sensorischer und kognitiver Leistungen. Von einer Erklärung der gesamten subjektiven Aspekte der Hirntätigkeit (im Manifest: „Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit“) sind wir jedoch noch immer weit entfernt. Die Klärung der entsprechenden Begriffe versuchen die Philosophie und die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften seit langem.

Ein Plädoyer für Nachdenklichkeit und Interdisziplinarität

Die erfolgreiche Theorieentwicklung in den Neurowissenschaften kann daher nur auf einer interdisziplinären Basis stattfinden. Das setzt aber voraus, dass sowohl Geisteswissenschaftler den empirischen Wissenschaften offen gegenüberstehen müssten, wie sich auch Hirnforscher von den Spuren einer Missachtung gegenüber den nicht-experimentierenden Wissenschaften befreien sollten.

Einige dieser Wissenschaften mögen arm an empirischen Daten sein, sie können aber dafür wichtige Kompetenzen in der kritischen Interpretation der Befunde, in der sorgfältigen Formulierung der empirisch zu erforschenden Fragen besitzen, die, wie wir sehen, der noch jungen Hirnforschung so oft fehlen. Interdisziplinarität als integrierte Kultur ist also nötig; weder eine „friedliche Koexistenz“ verschiedener (neurobiologischer, psychologischer, philosophischer) Ansichten noch assoziative Konsortien reichen aus.

Transdisziplinarität, die auch die praktischen Erkenntnisse der klinischen Neurofächer einbindet, wäre allerdings besonders wertvoll. Auf diese Weise könnten Neurowissenschaftler in einer nichtreduktiven Weise mehr der nötigen Nachdenklichkeit praktizieren und eine „reflexive Neurowissenschaft“ realisieren. Die Unterzeichner des vorliegenden Textes bemühen sich seit mehreren Jahren um einen derartigen inter- und transdisziplinären Diskurs und sehen dieses Memorandum als Anstoß, diesen Diskurs zu konsolidieren.

Redaktionell verantwortlich

1) Prof Dr. med. Dr. phil. Dr. rer. pol. Felix Tretter: Department Psychologie Ludwigs Maximilian Universität München, Leopoldstraße 13, 80802 München und kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost, Kompetenzzentrum Sucht, Ringstraße, 985540 Haar; E-Mail: felix.tretter@kbo.de

2) Prof. Dr. phil. Boris Kotchoubey: Institute of Medical Psychology and Behavioral Neurobiology Universität Tübingen, Gartenstraße, 2972074 Tübingen; E-Mail: boris.kotchoubey@uni-tuebingen.de

In Zusammenarbeit mit

3) Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Hans A. Braun: AG Neurodynamik Institut für Physiologie und Pathophysiologie Philipps Universität Marburg, Deutschhausstraße 2, 35037 Marburg; E-Mail: braun@staff.uni-marburg.de

4) Prof. Dr. phil. Thomas Buchheim: Lehrstuhl für Philosophie I, Ludwig-Maximilians Universität, Geschwister-Scholl Platz 1, 80539 München; E-Mail: thomas.buchheim@lrz.uni-muenchen.de

5) Prof. Dr. med. Andreas Draguhn: Institut für Physiologie und Pathophysiologie Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 326, 69115 Heidelberg; E-Mail: andreas.draguhn@physiologie.uni-heidelberg.de

6) Prof. Dr. med. Dr. phil Thomas Fuchs: Klinik für Allegemeine Psychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg, Voß-Straße 4, 69115 Heidelberg; E-Mail: thomas.fuchs@med.uni-heidelberg.de

7) Dr. rer. Pharm. Felix Hasler: School of Mind and Brain, Humboldt-Universität zu Berlin, Luisenstraße 5, 610117 Berlin; E-Mail: felix.hasler@hu-berlin.de

8) Prof. Dr. phil. Heiner Hastedt: Institut für Philosophie Universität Rostock, 18051 Rostock; E-Mail: heiner.hastedt@uni-rostock.de

9) Prof. Dr. rer. nat. habil. J. Leo van Hemmen: Physik Department T 35, Technische Universität München, James- Frank Straße, 185748 Garching bei München; E-Mail: lvh@tum.de

10) Prof. Dr. med. Dr. phil. Georg Northoff: Institute of Mental Health Research: Mind , Brain Imaging and Neurothics, University of Ottawa (Kanada); E-Mail: georg.northoff@theroyal.ca

11) Prof. Dr. rer. nat. Ingo Rentschler: Institut für Medizinische Psychologie Ludwigs Maximilian Universität München, Goethestrße 32, 80336 München; E-Mail: ingo.rentschler@med.uni-muenchen.de

12) Prof. Stephan Schleim PhD, MA Assistant Professor: Theory and History of Psychology, Faculty of Behavioral and Social Science, University of Groningen, Grote Kruisstraat 2/1, 9712 TS Gorningen , Netherlands; E-Mail: s-schleim@rug.nl

13) Prof. Dr. phil. Stephan Sellmaier: Forschungsstelle Neurophilosophie und Ethik der Neurowissenschaften, Ludwigs Maximilian Universität München, Geschwister Scholl Platz 1, 80539 München; E-Mail: sellmaier@lmu.de

14) Prof. Dr. med. Thomas Stompe: Abteilung für Sozialpsychiatrie Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien; E-Mail: thomas.stompe@meduniwien.ac.at

15) Prof. Dr. phil. Wolfgang Tschacher: Abteilung für Psychotherapie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Laupenstraße 49, CH-3010 Bern; E-Mail: wolfgang.tschacher@spk.unibe.ch

Quellen

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Stephan Sellmaier: Was beweisen Benjamin Libets Experimente zur Willensfreiheit? In: Philosophisches Jahrbuch, 2. Halbband. Alber, Freiburg 2007

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Thomas Stompe und Hans Schanda (Hg.): Der freie Wille und die Schuldfähigkeit. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2010

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Wolfgang Tschacher und Claudia Bergomi (Hg.): The implications of embodiment: Cognition and communication. Imprint Academic, Exeter 2011

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Felix Tretter und Christine Grünhut: Ist das Gehirn der Geist? Hogrefe, Göttingen 2010

Felix Tretter u.a. (Hg.): Systems biology in psychiatric research. Wiley-Blackwell, Weinheim 2010

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