Vagusnerv: Der Wundernerv?

Vier Bücher widmen sich dem Vagusnerv, dessen Stimulation dazu beitragen soll, Stress, Ängste, Depressionen und innere Unruhe zu lindern

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 9/2025 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezensionen der Septemberausgabe 2025. © Psychologie Heute

Reset und Neustart – lässt sich so der menschliche Organismus regenerieren? Mehrere Ratgeber wollen den Hebel zum Zurücksetzen oder gar „Upgrade“ des eigenen Nervensystems zugänglich machen: Mithilfe unseres Vagusnervs sollen wir aus Disstress und ungesunden Essgewohnheiten herausfinden, unser Immunsystem und Herz stärken können. Etwa indem wir ihn durch Stimm- und Atemübungen neu ausrichten.

Der längste Gehirnnerv im Menschen

Der Nervus vagus ist der längste Gehirnnerv im Menschen. Seine Fasern erreichen fast alle inneren Organe und leiten Körpersignale etwa vom Hirn zu Bereichen des Herzens und umgekehrt. Diese vernetzte Anatomie lädt dazu ein, ihr Bedeutung zuzuschreiben. Doch wie seriös sind Versprechungen um den „Selbstheilungsnerv“?

Klassisch gilt der Vagus als Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems. Während der sympathische Teil des Nervensystems Aktivierung vermittelt, wird der parasympathische auch als Ruhenerv bezeichnet: Vagusfasern regulieren mit, ob wir uns entspannt fühlen und einschlafen, wie ruhig und tief wir atmen.

Gegenseitige Unterstützung anstatt Fight-or-flight?

Hier setzt ein populäres Alternativmodell an. Seit den 1990ern veröffentlicht der Neurowissenschaftler Stephen Porges seine Polyvagaltheorie: Das klassische Verständnis von Sympathikus und Parasympathikus als Gegenspielern gilt nach Porges nur für frühe Reptilien: Die kämpfen und fliehen (mithilfe des Sympathikus, der den Organismus auf Aktion vorbereitet) oder fahren körperlich runter, um sich totzustellen (via Parasympathikus, der den Körper in Ruhe versetzt). Bei Säugetieren wie dem Menschen habe sich diese Reaktion weiterentwickelt. Vor Kampf oder Flucht setzen wir vorrangig auf gegenseitige Unterstützung, um zu überleben.

Eine Entwicklung, die sich nach Porges auch anatomisch zeigt: Im Säugetiervagus gebe es Bereiche, die noch die alten Reptilien­reflexe steuern – etwa das Totstellen, wenn wir uns bedroht fühlen. Darüber hinaus ließen sich aber weitere Nervenbahnen nachweisen, die mit ermöglichten, dass wir uns sozial verhalten und kooperieren. Diese vermeintliche Zweiteilung des Vagus nennt Porges „polyvagal“. Die neuen Bahnen seien biologische Basis unseres Sicherheitsgefühls – und damit unter anderem zentral für ein gesundes Herz-Kreislauf-System. Das bedeutet nach der Polyvagaltheorie: Wenn wir den „neuen“ Vagus aktiv halten, können wir tiefer entspannen, uns auf wohltuende Begegnungen einlassen und insgesamt gesünder bleiben.

Rehabilitiertes Nervensystem, förderliche Umgebung

In einem neuen Buch möchte Porges mit seinem Sohn und Co-Autor Seth Porges dazu anleiten, den jüngeren Vagus bewusst zu nutzen. Mit Sicherheit und Heilung finden. Die Polyvagal-Theorie in unserem Leben stellen die Autoren eine breite polyvagale Perspektive vor: Leserinnen und Leser sollen nicht nur lernen, das eigene Nervensystem zu rehabilitieren. Auch unsere Umgebung könne förderlicher auf die Bedürfnisse einer kooperativen Spezies eingestellt werden. Ein kühl wirkendes Krankenhaus, in dem wir uns isoliert fühlen, schöpft kaum vom heilenden Potenzial unseres sozial responsiven Organismus.

Wie sollen Inhaftierte auf ihr empathisches Nervensystem schalten und Reue empfinden, während eine bedrohliche Gefängnisumgebung den „Reptilienvagus“ (und damit das alte Totstellsystem) aktiviert? Leider wird nicht weiter ausgeführt, wie diese überzeugenden Anpassungen gemäß der Theorie zu gestalten wären. Mehr Raum nimmt das augenscheinlich weitere Anliegen des Buches ein, den „Polyvagus“ in der eigenen Forscher­biografie noch einmal festzuschreiben. Denn immer mehr Autorinnen und Autoren erkunden verwandte Zusammenhänge.

So veröffentlichen auch Anna Ferguson und Jessica Maguire Ratgeber zum Vagus-Reset. Wer sich von Ärztinnen und Therapeuten missverstanden fühlt, soll bei Maguire mit einem „Leitfaden für das Nervensystem“ und „Fragebögen zur Selbstdiagnose“ fähig werden, sich selbst zu heilen. Ferguson bindet ein ähnliches Programm eng in persönliche Erfahrungen ein: wie sie selbst und ihre Coaching-Teilnehmenden gesund wurden. Die Polyvagaltheorie dient beiden australischen Autorinnen als Erkenntnisrahmen; gängige Übungen wie „bewusst atmen“ oder „entspannende Playlist erstellen“ werden zu „Bioplastizitätstools“ und lassen sich mit wissenschaftlich anmutenden Anatomiezeichnungen illustrieren.

Dabei liegen kaum Studien vor, die Porges’ Modell belastbar stützen. Die vermeintlich neuen Vaguspfade sind nach derzeitiger Forschung weder relevanter für Entspannung als andere Teile des Nervs, noch unterscheiden sie sich wie postuliert vom „Reptilienvagus“. Wissenschaftliche Gegenbefunde zu den Polyvagalthesen hat etwa Paul Grossman 2023 mit dem Artikel Fundamental challenges and likely refutations of the five basic premises of the polyvagal theory zusammengefasst.

Do-it-yourself-Reset

Maximilian Moser berücksichtigt diesen Stand der Forschung in einer weiteren Neuerscheinung zum Vagusnerv. Der Mediziner und Biologe distanziert sich von Porges’ „Polyvagus“. Die praktischen Ableitungen aus seiner Forschung, die „heilende Kraft des Vagus“ zu nutzen, unterscheiden sich jedoch so wenig von den Empfehlungen der Polyvagaltheorie wie diese von bekannten Gesundheitstipps: Bewegung und Entspannung, Geselligkeit, Mittelmeerdiät. Auch bei Moser wird nicht deutlich, dass womöglich nichts davon den Vagus direkt anzielt; dass unklar ist, inwieweit spezifische Funktionen des Nervs ohne medizinischen Eingriff überhaupt lenkbar sind. Solche Effekte deuten sich derzeit nur bei professioneller elektrischer Stimulation an. So dürfte es den Nerven zwar durchaus zugutekommen, sich mit anderen Menschen zu verbinden und auf den Körper zu achten – doch für ein Do-it-yourself-Reset per Vagusschaltung wissen wir noch zu wenig.

Stephen W. Porges, Seth Porges: Sicherheit und Heilung finden. Die Polyvagal-Theorie in unserem Leben. Körper und Gehirn vor Traumata und Ängsten schützen. Aus dem Englischen von Theo Kierdorf und Hildegard Höhr. Probst 2024, 264 S., € 28,–

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